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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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wofür ich ihm ewig zu tiefstem Dank verpflichtet bin. Aber Sie verstehen mich bestimmt, wenn ich sage, dass Blut dicker ist als Wasser. Vor allem das Blut in den Adern jener, die zwischen den beiden Welten wandern. Sie werden das zweifellos aus eigener Erfahrung bestätigen können, Miss …«
    »Martinique«, ergänzte Speranza. Dieses Gerede von Blut irritierte sie. Sie erinnerte sich an den Fluss aus Blut in ihrem Traum. Die Luft schien dicker zu werden, als wäre das Fest plötzlich an einen Waldrand verlegt worden. »Und der Junge heißt …«
    »James«, fiel ihr der Junge ins Wort. Er sprach in einem Tonfall, wie sie ihn bis dahin noch nie aus seinem Mund gehört hatte: wohlerzogen, fast hochnäsig, wie ein Diener aus einem sehr vornehmen Haushalt. »Mein Name ist James Karney, wenn Sie gestatten, Sir.«
    »Ach, Unsinn, Johnny!«, fuhr ihn Speranza an. »Verzeihen Sie, Mr Chandraputra … wir sind beide sehr müde nach der Fahrt quer durch Europa, und der kleine Johnny Kindred liebt es einfach, andere Leute nachzumachen …«
    »Ah! Er ist der Junge mit den vielen Namen!«, rief Shri Chandraputra aus. »Jetzt verstehe ich alles.« Zu Speranzas Verblüffung fiel er vor dem Kleinen auf die Knie und blickte ihn mit einer Ehrerbietung an, die komisch gewirkt hätte, wäre sie nicht so vollkommen aufrichtig gewesen. Er stand wieder auf, nahm Speranzas Hand und küsste sie. Seine Nase fühlte sich auf ihrer Haut seltsam kühl an, fast wie eine Hundeschnauze. »Sie, Madam, Sie, Sie … wir alle verehren Sie … Sie, Sie sind fürwahr die Fleisch gewordene Madonna der Wölfe! Ah, Gräfin, den einen geboren zu haben, der eine Brücke zwischen unseren Rassen bilden wird … gestatten Sie mir, der Erste zu sein, der Ihnen seine Ehrerbietung erweist. Bursche! Bursche!
Champagner und Berge von Kaviar! Oder soll ich lieber Gold, Weihrauch und Myrrhe holen lassen?«
    »Sir, Sie machen sich über mich lustig«, wehrte Speranza lachend ab, denn der Inder lieferte wirklich eine bühnenreife Vorstellung. »Dies ist kein neuer Christus, sondern ein armes, halb wahnsinniges Kind, das dringend etwas Zuneigung braucht; und ich bin keine Madonna, sondern eine einfache Erzieherin in den Diensten des Grafen.«
    »Dann haben Sie nicht das Privileg, die Mutter des Kindes zu sein?«, fragte Shri Chandraputra, kratzte seinen exakt gestutzten Bart und zog skeptisch eine Augenbraue hoch.
    »Nein«, antwortete sie, »ich fürchte, diese Ehre wird mir nicht zuteil«, und wollte sich abwenden. »Komm, Johnny, wir wollen mal sehen, ob Dr. Szymanowski uns das erklären …«
    »Madam«, widersprach der Junge in dieser seltsam erwachsenen Stimme, »bitte unterlassen Sie es, meine Hand zu halten, denn ich hatte noch nicht das Vergnügen, Ihnen vorgestellt zu werden. Vielleicht wären Sie so gütig, mich loszulassen, damit ich meinen Aufgaben wieder nachkommen kann?« Mit diesen Worten wand er sich aus ihrem Griff und stolzierte mit hoch erhobener Nase durch den Durchgang hinaus, wie eine Parodie eines britischen Butlers.
    Was will er damit erreichen?, fragte sich Speranza. Bis jetzt hatte er ihr drei Persönlichkeiten gezeigt: den gutmütigen Johnny Kindred, den bestialischen Jonas Kay - und jetzt James Karney, der sich offenbar für einen Hausdomestiken hielt. War es möglich, dass sich das Kind dieser verschiedenen Persönlichkeiten überhaupt nicht bewusst war, war das die Wurzel seiner Krankheit?
    »Interessant, nicht wahr?«, rief sie Szymanowski aus ihren Gedanken. Erst jetzt merkte sie, dass er sich zu ihr gesellt hatte und sie mit herablassender Neugier musterte.
    »Interessant! Wahrscheinlich könnte man das wirklich so nennen. Aber es ist auch sehr traurig, Professor.«

    »Traurig! Pah, wie melodramatisch. Zweifellos halten Sie die ganzen Angelegenheiten für einen Groschenroman. Sie haben vielleicht sogar schon eine Theorie über die Probleme des Jungen?«
    »Die Seele des Kindes ist tief verstört, so viel steht fest, Professor. Ich dachte ursprünglich, dass in seinem Inneren die Prinzipien von Licht und Dunkel streiten. Aber …«
    »Seele! Licht und Dunkel! Liebes Fräulein, was für antiquierte Vorstellungen Sie haben!«
    Sie fühlte sich in seiner Gegenwart unwohl. Aber er hatte sich zwischen ihr und dem Durchgang zu den Dienstbotenräumen aufgebaut. Nachdem sie sich nicht zurückziehen konnte, straffte sie sich und tauchte in das Getümmel, nachdem sie von einem Lakaien ein Glas Champagner genommen hatte. Sie sah, wie der Inder

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