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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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als mein Kind.«
    »Sie meinen doch nicht …« setzte Speranza an und versuchte, Johnny mit ihren Armen abzuschirmen. Aber der Junge stieß sie brüsk beiseite. Seine Augen glühten jetzt.
    Der Graf breitete seine Arme aus, um sein Kind zu umarmen. Zögernd schritt der Junge ihm entgegen. Durch das Fenster über der Tür konnte Speranza den Mond aufgehen sehen, bleich und in der eisigen Luft von einer Korona umgeben.

    Der Junge stand jetzt vor dem Grafen, wirkte winzig angesichts der massigen Gestalt. Der Graf schlang seinen Umhang um ihn. Speranza rief Johnnys Namen, aber ihre Stimme ging im Heulen des Windes und in dem Lärm aus dem Ballsaal unter -
    Der Graf blickte sie verlangend an. Sein Blick bannte sie. Es lag eine Art Liebe darin. Der Graf kam auf sie zu. Seine Lippen schlossen sich schon nicht mehr, denn von innen begann ein Wolfskiefer zu wachsen. Als sie wie angewurzelt stehenblieb, begann er ihr auf Italienisch zu schmeicheln: »Come sei bella, fanciulla, come sei bella, mia Speranza.« Die Stimme war rau, kehlig, es war die Parodie ihrer Muttersprache - trotzdem umgarnte sie dieser Wolfsmensch, er wollte sie lieben. Ihr Blut pulsierte. Ihre Haut kribbelte. Eine Hand kam unter dem Umhang hervor: eine verkrümmte, pelzige Hand. Eine Klaue kratzte über ihre Wange. Sie schloss schaudernd die Augen, begehrte und verwünschte ihn. Ihre Haut brannte, wo seine Pfote sie berührt hatte. Sie wich nicht zurück, denn er hielt das Kind immer noch umfangen, und sie sagte sich, dass es ihre heilige Pflicht war, den Jungen aus seinen Klauen zu retten, dass sie dafür sogar das letzte bisschen Keuschheit opfern musste, das ihr noch geblieben war. Sie erwiderte seinen Blick mit Verachtung.
    »Ich werde ihn retten … irgendwie …«
    »Wirst du das, meine Madonna der Wölfe? Ich hätte Lust, dich gleich jetzt zu einer der unseren zu machen. Ein Biss sollte genügen. Oder ich könnte dich zwingen, den Tau zu trinken, der sich in meinen Spuren gesammelt hat; wir bewahren in diesem Haus Phiolen jener kostbaren Flüssigkeit auf, extra für solche Gelegenheiten. Oder würdest du vielleicht den Pelz meiner Ahnen tragen wollen, der erst mit dem Tode wieder abgelegt werden kann?«
    »Ich würde niemals zu euch gehören«, sagte sie. Aber seine Worte waren verführerisch.

    Seine Pfote strich immer noch über ihre Wange. Sie schüttelte den Kopf und löste die silberne Halskette unter ihrem Kragen. Der Graf zuckte zurück. Seine Stimme war kaum mehr menschlich. »Schätzen Sie sich glücklich, Mademoiselle, dass Sie dieses Kollier tragen!«
    Seine Stirn war jetzt flacher, und seine Brauen bogen und verkrümmten sich, während Haare aus seinen Hautfalten wuchsen. Er heulte, und ein livrierter Diener trat mit einer Laterne aus einem Vorzimmer.
    »Wenn das gnädige Fräulein mir folgen würden«, sagte der Diener mit einer tiefen Verbeugung. »Ich bringe Sie an einen sicheren Ort, wo Sie von den Festivitäten der heutigen Nacht verschont bleiben und nicht um Ihre Person zu fürchten brauchen. Darf ich Sie hinaufbegleiten?« Er sprach Französisch mit wienerischem Akzent.
    Sie zögerte. Sie wollte noch protestieren, aber der Graf schlug seinen Mantel zurück, sodass sie den jungen Welpen in viel zu großen Kleidern von seinen Armen springen sah, und sie wusste, dass Johnny nicht mehr zu helfen war, wenigstens nicht in dieser Nacht. Morgen früh würde sie überlegen, was sich machen ließ. Vielleicht hatte dieser junge Student Freud ja eine Idee. Auf keinen Fall durfte sie den Jungen verlassen - niemals, niemals.
    Der Wölfling rannte heulend im Kreis herum, und auch der Graf fiel jetzt auf alle viere, und sie konnte die Gäste mit ihren Pfoten an der Tür des Ballsaals kratzen und trommeln hören, und sie roch ihre Wut: Sie drehte sich um und folgte dem Diener die Treppe mit dem Geländer aus Onyx und Gold hinauf, an Marmorstatuen und verstaubten Porträts vorbei.
    Im Obergeschoss schien der chaotische Lärm weit entfernt zu sein, die schweren Vorhänge dämpften die Geräusche. »Wenn Sie gestatten, gnädiges Fräulein, bringe ich Sie in eine Suite im Dienstbotenflügel; dort ist es viel sicherer, glauben Sie mir.«

    »Warum tun sie Ihnen nichts?«, fragte ihn Speranza. »Sie sind unberechenbar.«
    »Wir sind alle gebrandmarkt.«
    Er hielt die Lampe hoch, und sie sah auf seinem Handrücken einen Fleck, den sie zuvor für ein Muttermal gehalten hatte; als sie ihn genauer betrachtete, erkannte sie, dass es ein Brandzeichen in

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