Wolfsruf
Spirale hetzten -
»Speranza, ich habe Angst …« Johnnys furchtsame Stimme wurde von der anderen Stimme unterbrochen: »Zurück … du hast nichts mehr zu sagen, geh wieder rein, ich werde die Hündin umbringen!«
»Johnny!«
Shri Chandraputra Dhar hatte sich jetzt seinen Turban vom Kopf gerissen und sich auf alle viere niedergelassen. Er zerfetzte sich das Gesicht. Er heulte. Hautfetzen hingen von seinem Hals, seinen Handflächen. Blut schoss ihm aus den Augen wie Tränen. Seine Nägel wurden länger, seine Hand schrumpfte zu einer Pfote. Speranza stand wie angewurzelt, obwohl ihr das Herz im Halse schlug, denn seine Verwandlung strahlte eine strenge, fremde Schönheit aus.
Die Frau im eleganten Kleid kreischte: »O wie grässlich, meine Lieben … das sind diese heißblütigen Orientalen … man sieht den Mond noch nicht einmal, und trotzdem hockt er schon auf allen vieren herum und heult. Jemand muss sich um ihn kümmern, bevor er alle anderen ansteckt.« Ihre Worte verwandelten sich in ein heiseres Brüllen, Fangzähne wuchsen hinter den feuchten, rot bemalten Lippen, und Haare trieben aus ihrem glatten, porzellanfarbenen Antlitz -
Speranza rannte los, den Jungen hinter sich herschleifend.
Zwei Lakaien bewachten die Doppeltür, die zur Eingangshalle führte. Sie verbeugten sich und ließen sie durch. Die Tür fiel donnernd hinter ihnen ins Schloss. Speranza zitterte am ganzen Leib. Der Junge befreite sich aus ihrem Griff und schaute sie an.
»Warum bringst du mich von ihnen weg?«, fragte er leise. »Ich verstehe ihre Sprache ein bisschen, glaube ich. Und irgendwie gehöre ich zu ihnen.« Es war wieder Johnny Kindreds Stimme: immer schüchtern, immer wie ein kleines Kind.
Durch die massiven Türen drangen Heulen, Knurren, Jaulen, Fauchen, begleitet von der leidenschaftlichen Musik. Die Eingangshalle lag im Dunkeln. Ein einsamer Kerzenständer flackerte verloren am Fuß einer geschwungenen Treppe. An den Wänden hingen violette Samtgobelins, und der Boden war mit dicken Teppichen bedeckt, die den Klang ihrer Schritte verschluckten.
Speranza wusste keine Antwort auf seine Frage. Sie spürte
Angst; sie spürte fassbare, unendlich tiefe Bösartigkeit; und doch hatte die Dunkelheit auch sie angelockt. Sie wagte es nicht zu bleiben, und doch - sie erinnerte sich daran, wie sie Michael Bridgewater bei seinen Lateinverben geholfen oder auf einer von Lord Slatterthwaites endlosen Gartenpartys Tee ausgeschenkt hatte und dabei Träume gesponnen hatte, die viel zu dunkel, zu sinnlich waren, als dass jemand je davon erfahren durfte. Schon damals hatte sie davon geträumt, berührt zu werden, mitten in einem einsamen Wald, von einem Wesen bedrängt zu werden, das kaum Mensch war, und sich einem grausamen Entzücken hinzugeben, das gepaart war mit Schmerz und Tod. Und sie hatte bei sich gedacht: ich bin schlecht, ich bin ohne jede Scham, dass ich es wage, solch lüsterne Gedanken zu haben. Sie wusste, dass es am besten wäre, das Kind für immer fortzubringen. Aber der Abgrund, an dessen Rand sie beide standen, rief nach ihr.
Deshalb antwortete sie dem Buben nicht; sie drückte ihn einfach an sich. Er schien wie betäubt. Er bewegte sich, kratzte dabei ihren Arm blutig. Sie starrte seine Fingernägel im Dämmerlicht an. Sie waren länger geworden und gekrümmt wie Klauen. Aber sein Gesicht hatte sich nicht verändert.
»Wir gehen von hier fort«, versprach Speranza. »Wenn du von diesen Menschen weg bist, dann wirst du keiner von ihnen.«
»Ist es so einfach?«, fragte der Junge.
Vor ihnen lag die massive Eingangstür, die sie zuvor von draußen gesehen hatte. Die Klinken waren wie Wolfspfoten geformt und gehörten zu zwei geschnitzten, sich streitenden Wölfen; im Dämmerlicht glühten ihre Augen - ins Holz eingearbeitete Cabochon-Topase - intensiv und zornig. Sie wich zurück, das Kind immer noch in ihren Armen.
Hinter ihr: Gelächter, Musik, Wolfsheulen.
Vorsichtig berührte sie die Klinke, drückte sie herunter.
Die Türen schwangen auf! Zu beiden Seiten standen Lakaien.
Und mitten in der Tür stand mit wehendem Umhang, groß und schwarz gegen das Schneetreiben, jener Mann, den sie am meisten fürchtete: der Mann, der sie an den Rand der Dunkelheit geführt hatte, der in ihr so gefährliche Sehnsüchte geweckt hatte.
»Speranza«, sagte er. »Sie haben also beschlossen, bei uns zu bleiben.«
»Ihre Gäste … sie … sie verwandeln sich … werden zu wilden Tieren …«
»Pah! Konnten sie nicht einmal
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