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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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bis Mondaufgang warten? Sie werden alles zerstören, wofür ich gearbeitet habe! Ich bereue langsam, dass ich dieses Treffen des Lykanthropenvereins einberufen habe.«
    »Lykan…« Sie hatte das Wort inzwischen so oft gehört; es war eines dieser pseudowissenschaftlichen Wortungetüme, und sie hatte sich keine Gedanken darüber gemacht. Aber jetzt schaute sie ihn fragend an, und er antwortete:
    »Die Gesellschaft der Werwölfe, meine liebe Speranza. Deren Vorsitz ich nach langwierigen Rangkämpfen übernommen habe. Es war dumm von mir, die Versammlung in meiner Wiener Residenz zu arrangieren … man könnte uns sehen, wir könnten Aufmerksamkeit erregen … es wäre besser gewesen, wir hätten uns auf meinem Landsitz in der Wallachei getroffen …« Der Graf seufzte. »Aber … Sie wollten gerade hinaus, nicht wahr, Mademoiselle Martinique?«
    Sie mobilisierte ihre letzten Kräfte. »Ich kann es nicht zulassen, dass Sie oder Dr. Szymanowski die Verantwortung für das Kind übernehmen, Graf von Bächl-Wölfling. Vergeben Sie mir, dass ich meinen Vertrag nicht erfülle; ich werde versuchen, Ihren großzügigen Lohn zurückzuerstatten, sobald ich eine andere Anstellung gefunden habe …«
    »Was wollen Sie machen? Den Jungen selbst großziehen? Sie müssen sich doch darüber im Klaren sein, dass eine Frau von Ihrem Rang …«

    »Wenn es sein muss, dann werde ich es tun!«
    »Haben Sie das Kind schon gefragt?«
    »Nein … aber natürlich will er nicht hierbleiben! Er ist ein Lamm unter reißenden Wölfen. Zuneigung und Wärme können ihn heilen, nicht die bestialischen Experimente Ihres wahnsinnigen Professors!«
    »Fragen Sie ihn.«
    »Ich brauche ihn nicht zu fragen … ich sehe das Entsetzen in seinen Augen, und ich spüre, wie er sich an mich klammert.«
    »Fragen Sie ihn!«
    Er klatschte in die Hände. Die Türen schlugen zu, und die beiden Lakaien bauten sich mit erhobenen Kerosinlampen zu beiden Seiten des Grafen auf. Sie hörte eine unmenschliche Stimme im Ballsaal kreischen: »In einer Minute schlägt unsere Schicksalsstunde … in einer Minute geht der Mond auf!«
    Der Junge riss sich aus Speranzas Arm los. Die Lampen warfen seinen doppelten Schatten auf die Gobelins. Er wich vor dem Grafen zurück; und doch sprach aus seinen Augen Ehrfurcht - und Liebe.
    »Speranza, lass mich nicht zwischen euch wählen. Speranza, ich liebe dich, aber ich muss bleiben, verstehst du das nicht? Das weiß ich jetzt.« Im gleichen Moment wurde der Geruch von Hundeurin so stark, dass sie würgen musste. Und dann sprach der Junge wieder, diesmal mit Jonas’ tiefer Stimme: »Er ist mein Vater.«
     
    Jonas hatte die Macht an sich gerissen. Auf der Lichtung tief in Johnnys Geist kontrollierte der Wolf, der Jonas war, den gesamten Körper. Johnny stand am Waldrand. In seiner Nähe waren noch andere Personen, die sich im Schatten versteckten, von Baum zu Baum huschten.
    »Mein Vater?«, schrie Johnny. »Wie kannst du behaupten, dass er mein Vater ist?«
    Jonas brüllte zurück: »Ich kann es riechen … ich kann mich
an Gerüche erinnern, auch wenn du das nicht kannst. Ich kann eine Menge Dinge, die du nicht kannst … ich kann riechen, ich kann hören, ich kann töten. Das ist mein Körper, nicht deiner. Der Wolfsmensch, die Bestie im Menschenkleid - er ist unser Vater, du Dummkopf. Deshalb kannst du ihm nicht entkommen.«
    »Nein!«, schrie Johnny auf. Er versuchte, Tränen aus den Augen des Körpers fließen zu lassen, aber Jonas hatte den Leib vollkommen unter Kontrolle. Johnny wollte die Hand ausstrecken, wollte Speranza sagen, dass er sie nicht verlasen würde. Aber Jonas war stärker als je zuvor - weil der Mond aufging.
    Ich muss mich zurückziehen, dachte Johnny. Er schaute Jonas zu, der wild im Licht tanzte, den Körper gespenstisch zucken ließ. Er wusste, dass Jonas in den Wald fliehen würde, sobald die Spasmen nachließen, und dann die Lichtung räumte, damit Johnny die Schmerzen spürte. Jonas liebte es, anderen Schmerzen zuzufügen, aber wenn er selbst Schmerzen ertragen musste, überließ er diese Aufgabe immer Johnny oder einem anderen.
     
    »Sehen Sie?«, sagte von Bächl-Wölfling. »Das Kind weiß es instinktiv! Instinktiv! Er ist mein Sohn: gezeugt mit einer englischen Hure in Whitechapel, aufgewachsen in einem Irrenhaus, aber trotz allem von meinem Blute - er hat die Augen des Wolfes, die Sinne, das Gedächtnis; er erkennt mich sofort. Und nachdem er mich Vater genannt hat, nehme ich ihn an, umarme ich ihn

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