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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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ich hab noch nie von einer Stadt gehört, die Winter Eyes heißt. Aber warum wollt ihr überhaupt nach Gold suchen, wenn ihr schon so reich seid? Deine Kleider sehen aus, als würden sie mindestens fünfzig Dollar kosten, und dabei ist heute nicht mal Sonntag.«
    »Der Graf hat sie mir geschenkt. Er ist sehr gut zu mir.«
    »Gut zu dir! Was musst du dafür tun, deinen Arsch hinhalten?«
    »Ich verstehe leider nicht, was du meinst, Teddy.« Aber er spürte, dass sich Jonas zum ersten Mal seit Wochen rührte, und er wollte das Thema wechseln. »Ist es aufregend, im Zug zu arbeiten?«
    »Manchmal. Komm mit! Ich zeig’ dir alles. Wir können ins Omaha-Depot rübergehen, wenn du möchtest. Dort steht eine neue Mogul. Und sie haben gerade ein paar neue Salonwagen gebracht. Ich glaube, sie sind für deinen Freund, den Grafen.«

    »Ich weiß nicht.« Die Zeit wurde knapp. Speranza würde bald nach ihm suchen, und wenn er zu lange ohne ihren Schutz war, hatte er immer die Befürchtung, die anderen würden ihn überwältigen und den Körper übernehmen. »Ich muss zurück. Ich muss noch Latein lernen.«
    »Ein Wettrennen!«
    Und schon war Teddy losgelaufen, wirbelte den Staub mit seinen bloßen Füßen auf. Johnny wollte ihm folgen, aber eine dicke Frau, die ihren Koffer in Richtung Depot schleppte, kreuzte seinen Weg; beim Zusammenprall wurde ihm der Hut vom Kopf geschleudert. Der Wind trieb ihn dem Fluss zu. Johnny rannte hinterher, hob ihn auf und holte Teddy dann ein. Der Fluss roch klar und sauber. Ihre Schritte donnerten auf den Bohlen. Sie liefen Slalom durch die Mengen der Fußgänger. Ein Padre drohte ihnen mit dem Finger. Sie lachten. Johnny duckte sich unter dem niedersausenden Schirm einer erzürnten Frau. Der Zeitungsjunge quietschte vor Vergnügen.
    »Schau! Die Mogul kommt gerade!«
    Johnny hörte etwas in der Ferne pfeifen. Sie erreichten den Bahnsteig, ganz außer Atem, und dann sah Johnny die Lok kommen, eine monströse, schnaufende, zischende Maschine, deren strahlend blauer und roter Lack durch den Staub und Schmutz schimmerte. Sie bremste. Dahinter waren Dutzende Geleise zu sehen, die sich teilten, vereinten, krümmten; und hinter ihnen die Stadt.
    »Komm, wir laufen in den Hof«, sagte Teddy und zupfte ihn wieder am Ärmel. Sie rannten am bremsenden Zug entlang.
    Am Ende des Bahnsteigs rief ihnen ein Uniformierter zu: »Raus da! Ach, du bist’s, Halbblut. Na, sei vorsichtig.«
    »Was heißt ›Halbblut‹?«, fragte Johnny.
    Der Junge blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn an. »Weißt du das wirklich nicht? Ich bin Halbindianer. Mein Pa ist Eisenbahner, aber meine Ma ist eine Sioux. Er hat uns wegen einer Chinesin sitzen lassen, und ich bin aus dem Reservat weggelaufen,
weil ich ihn suchen wollte. Aber jeder kann mir ansehen, was ich bin. Ist dir das wirklich nicht aufgefallen?«
    »Nein.« Der Zug quietschte über die Geleise. Ein Mann rannte über die Dächer der Güterwaggons und zog die Bremse jedes einzelnen Wagens an. »Macht das denn einen Unterschied?«
    »Das bedeutet, dass dich jeder zivilisierte Mensch behandelt, als wärst du ein Haufen Scheiße, Junge. Das bedeutet, dass du dein ganzes Leben nicht weißt, wer du wirklich bist.«
    »Ich verstehe«, sagte Johnny leise.
    »Scheiße! Wie soll ein reicher Schnösel wie du das verstehen?«
    »Ich bin auch einer«, sagte Johnny. »Ich verstehe dich wirklich.« Er legte seine Hand auf Teddys verschwitztes Handgelenk und drückte es.
    »He! Freunde?«
    »Brüder.«
    »Bleib bei mir, dann kümmer’ ich mich um dich. Gib acht, wenn ich Zeitungen verkaufen komme.«
    Die beiden Jungen lächelten einander an. Ein uniformierter Mann lief neben dem bremsenden Zug her und sprang zwischen alle Wägen. »Was macht er da?«, fragte Johnny.
    »Er entkuppelt bloß die Waggons. In dieser primitiven Gegend wird das noch von Hand gemacht. Er springt zwischen die Waggons und zieht den Bolzen und versucht wieder rauszukommen, bevor …«
    Ein Krachen - Stahl auf Stahl. Der Mann brüllte los. Teddy warf einen neugierigen Blick hinunter, aber Johnny musste die Augen zukneifen. Der Eisenbahner, der sie vorhin ermahnt hatte, lief zur Unglücksstelle und rief um Hilfe. Der Mann war gestürzt und lag schreiend auf den Schienen. Der Zug war endlich zum Stehen gekommen.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte ihn Teddy.
    »Es ist nur das Blut …« Von seinem Platz aus konnte Johnny
kein Blut sehen, aber in seinem Inneren rührte sich jemand anderes, jemand, der die

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