Wolfsruf
die Kragenseiten.
Mit regloser Miene übte er die schnelle Kniebewegung, mit der er die Stahlklaue nach vorn durch die Manschetten schieben konnte, in die eine Extratasche eingenäht war. Die Ärmel waren verschwenderisch mit Spitzen besetzt, unter denen jegliche ungewöhnliche Bewegung verborgen blieb. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alles reibungslos funktionierte (und nachdem er ein paar Tropfen Öl auf die Scharniere gegeben hatte, die ihm ein wenig steif erschienen waren), knöpfte er seine Weste zu, die aus grüner chinesischer Seide bestand und mit goldenen Schmetterlingen bestickt war, und zog seine Jacke darüber. Dann lud er den Derringer und steckte ihn in seine Westentasche. Er hing an einer Goldkette wie eine Taschenuhr.
Er setzte einen eleganten Bowler auf, glättete seinen Schnurrbart mit demselben Öl, das er für seinen Apparat verwendet hatte, und machte sich auf, seine Opfer für den heutigen Tag auszuwählen. Er schnüffelte. Die Luft roch nach Geld, dessen war er sicher. Schließlich war ihm nicht entgangen, dass Grafen und Fürsten und europäische Gentlemen an Bord waren.
»Wenn wir in Grand Island ankommen«, sagte er zu sich und zog den Vorhang seines Abteils zu, »hab ich einen Sack Gold gewonnen.«
»Bitte bitte, lass mich gehen!«, bettelte Johnny Speranza an. »Ich habe Teddy versprochen, dass ich mit ihm durch den Zug gehe und ihm helfe, wenn er seine Zeitungen verkauft. Und ich möchte mir einmal die Passagiere in der zweiten und dritten Klasse ansehen. Teddy sagt, in der dritten Klasse sitzen sie eng wie die Maden.«
Speranza seufzte. Der Junge war viel wilder, viel eigensinniger geworden, seit sie in Amerika angekommen waren. »Aber zuerst musst du frühstücken. Wenigstens ein Brot.« Sie reichte ihm ein Marmeladenbrot, und er lief damit durch den Gang des Speisewagens davon. Er stieß mit einem kleinen Mann mit Bowler-Hut zusammen, der eben in den Speisewagen trat und der für Speranzas Geschmack etwas geckenhaft angezogen war.
»Ich muss mich für den Jungen entschuldigen …«, setzte Speranza an.
»Aber das macht doch gar nichts, Madam! Die lebhafte, ungestüme Jugend! Darf ich mich zu Ihnen gesellen, da der Junge seinen Platz frei gemacht hat?« Er lüpfte den Hut und zeigte seine kahle Schädeldecke.
»Leider ist der Tisch reserviert«, wehrte Speranza ab, denn der Mann war ihr zu aufdringlich. Sie legte betont ihre Bibel auf den Tisch. Claggart entschuldigte sich augenblicklich und zog sich zurück.
Shri Chandraputra, der allein am Tisch gegenüber saß, erbot sich: »Ich bitte Sie, Sir, kommen Sie doch herüber und speisen Sie mit mir.« Er verneigte sich leicht. Sein purpurroter Turban kontrastierte mit der saftig grünen Prärie, die sie durchfuhren.
»Der Teufel soll mich holen! Ich bitte um Vergebung, Madam, aber das ist beinahe zu viel der Ehre. Ein leibhaftiger orientalischer Kürbiskopf! Cordwainer Claggart, Sir, zu Ihren Diensten. Ich bin der Erfinder von Claggarts weltberühmtem Heilmittel, dem Floccinaucinihilipilificator. Vielleicht haben Sie schon davon gehört?«
»Nein, leider noch nicht.«
»Ich nehme nicht an, dass Sie Poker spielen?«
»Das Spiel ist mir nicht gänzlich unvertraut. Aber wie wäre es mit einer Partie vingt-et-un? «
»Abgemacht! Nach dem Frühstück im Salonwagen«, entschied Claggart. Er klang ausgesprochen selbstzufrieden. Kurz darauf wandte er sich an Speranza und fragte: »Wissen Sie etwas über diesen millionenschweren Grafen, über den alle im Zug sprechen?«
»Sie meinen nicht zufällig mich?«
Er war da. Speranza hatte ihn nicht kommen hören. Sie hätte inzwischen an die Lautlosigkeit seiner Bewegungen gewöhnt sein müssen, aber er erschreckte sie immer noch. Er musterte Claggart, schien sich über seinen farbenfrohen Aufzug zu amüsieren. Er selbst trug Schwarz. »Ich bin Graf Hartmut von Bächl-Wölfling.« Der Graf setzte sich ihr gegenüber und bestellte ein Frühstück.
»Ich fühle mich geehrt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Euer Hoheit - man sagt doch Euer Hoheit?«
»Leider nicht. ›Graf‹ reicht vollkommen, obwohl dieser Rang und ›Baron von Kodaly‹ die geringsten Titel meiner Familie waren, bevor es zur Vereinigung von Österreich und Ungarn kam. Natürlich legten meine Vorfahren Wert darauf, dass sie
ein Fürstentum im Königreich Wallachei besessen hatten, und darum bestehen meine Bediensteten immer noch darauf, mich ›Euer Gnaden‹ zu nennen. Aber nachdem die Wallachei kein
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