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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Stimme seiner Erzieherin quer durch die Lobby des Transfer-Hotels. Aber er wollte jetzt nicht bei Speranza sein. Latein-Grammatik war in Ordnung, wenn man in einer winzigen Kabine auf einem Überseedampfer eingesperrt war oder tagelang in einem Zugabteil ausharren musste. Aber sie würden erst morgen wieder abreisen, und bis dahin hatte er nicht vor, so lange in einem Zimmer zu bleiben, bis er auch nur ein einziges Verb konjugieren könnte.
    Nicht wenn es so viel zu sehen, so viele Menschen zu sprechen, so viele Gerüche und Geräusche zu erforschen gab.
    Er sah, dass Speranza auf der Treppe stand und ihn zu sich winkte. Die Lobby war voller Reisender. Ein Pokerspiel war auf dem Teppich im Gange, und ein paar Männer saßen auf Holzkisten im Kreis, während ein zerlumpter Junge ihnen über die Schulter spähte und versuchte, ihr Blatt zu erkennen. Er bemerkte Johnny, und Johnny lächelte schüchtern zurück.
    Speranza hob entnervt die Hände. Johnny entschied, dass ihm noch gut eine halbe Stunde blieb, bevor sie nach ihm suchen würde. Er wollte gerade nach draußen gehen, als er hörte, wie der zerlumpte Junge einem der Kartenspieler etwas zumurmelte, der im gleichen Moment aufsprang, seine Karten auf den Boden schleuderte und dem Burschen eine schallende Ohrfeige versetzte.
    Der Junge trat ihm gegen das Schienbein und rannte zur Tür.
    Der Kartenspieler schüttelte seinen Ärmel. Ein winziger Revolver glitt in seine Hand. Er zwirbelte mit der linken Hand seinen Schnurrbart und zielte mit der Rechten; dann überlegte er es sich anders, machte eine kurze Handbewegung, und der Derringer verschwand wieder in seinem Ärmel.

    »He, du da!« Eine Stimme direkt hinter ihm. »Komm her.«
    Johnny drehte sich um und erblickte den zerlumpten Jungen. »Verschwinden wir von hier. Das langweilt mich«, sagte der Knabe und zupfte Johnny am Ärmel. Dann packte er ihn im Nacken und schob ihn hinaus, wobei er den frischen Papierkragen schmutzig machte, den Speranza Johnny erst an diesem Morgen angelegt hatte.
    »Der Teufel soll diesen Kartenhai holen!«, fluchte der Junge. »Immer wenn ich kurz davor bin, seine Technik zu durchschauen, schmeißt er mich raus.«
    Sie standen jetzt vor dem Hotel, einen Steinwurf vom Ufer des Missouri entfernt. Eine Brücke überspannte den Fluss, und ein unablässiger Strom von Menschen zog darüber, zu Fuß oder im Pferdewagen, sowie endlose Reihen von Lastkarren. Das Depot war direkt neben dem Hotel, und Johnny konnte ein weiteres Depot am anderen Ufer erkennen.
    »Wer war dieser Mann überhaupt?«, fragte Johnny.
    »Er heißt Claggart.« Johnnys neuer Freund war ungefähr elf Jahre alt. Er hatte schmutziges, zerzaustes schwarzes Haar, weit auseinanderliegende braune Augen, einen dunklen Teint, und er trug eine braune Jacke, die schon bessere Tage gesehen hatte. Er schmunzelte unentwegt. »Er bearbeitet die Union-Pacific-Strecke, von Cheyenne nach Omaha und zurück.«
    »Bearbeitet?«
    »Du weißt schon. Black Jack. Poker.«
    »Oh. Glücksspiele.« Erst jetzt fiel Johnny auf, dass sein neuer Kumpan barfuß ging und in seiner Hose ein paar Löcher gähnten, durch die seine dürren, unbehaarten Schenkel zu sehen waren.
    »Bist du ein Einwanderer, Junge? Du siehst so vornehm aus. Ich dachte, deine Ma ist Witwe; ich hab gesehen, dass sie Schwarz trägt. Ich hab gedacht, vielleicht ist sie in den Westen gekommen, um sich einen Mann zu angeln. Dann hab ich mich gefragt, warum sie im Osten keinen gefunden hat. Vielleicht
war ihr keiner Manns genug. Die strecken dort ja bloß die Nase in die Luft und vergessen dabei, dass sie das auch mit ihren Pimmeln machen müssen.«
    »O nein. Die Frau, die du gesehen hast, ist meine Gouvernante, Mademoiselle Martinique. Ich gehöre zur Reisegesellschaft des österreichischen Grafen. Ich heiße …« Plötzlich zögerte Johnny. Die anderen drinnen. Sie lungerten alle am Rand der Lichtung herum und warteten darauf, diesem neuen Freund vorgestellt zu werden. Außer Jonas. Jonas hatte sich tief in den Wald verzogen.
    »He! Hast du deine Zunge verschluckt?«
    »Tut mir leid. Ich bin Johnny Kindred. Ja, ich bin ein Einwanderer. Wir fahren in eine neue Stadt im Dakota-Territorium. Sie heißt Winterreise.«
    »Ich bin Theodore Grumiaux. Ich bin Zeitungsjunge. Das heißt, ich renn’ im Zug hin und her und verkaufe Zeitungen und Tabak und alles, was die Passagiere so brauchen. Komisch - ich arbeite auf der Strecke zwischen Omaha und Cheyenne, seit ich neun Jahre alt bin, aber

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