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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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unabhängiger Staat mehr ist, finde ich das ein bisschen hochstaplerisch, meinen Sie nicht auch?«
    Speranza musste ein Lachen unterdrücken, als sie Claggarts verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte.
    Claggart starrte sie beide mit unverhohlenem Interesse an, deshalb sprach der Graf augenblicklich auf Französisch weiter: »Dieser barbarische amerikanische Kaffee! Er schmeckt wie Flusswasser. Nicht einmal eine Prise Muskat oder ein Teelöffel geschlagene Sahne ist drin!« Er schlürfte missmutig an seinem Kaffee und bezahlte dem Ober fünfzig Cents für das unverschämt teure Frühstück: Während von Bächl-Wölflings kurzer Erläuterung der Familiengeschichte hatte er Steak, Schinken, Eier, Biskuits, Butter und Marmelade aufgetragen. »Sagen Sie, Speranza … sind Sie zufrieden mit den Fortschritten, die der Junge macht?« Bevor sie antworten konnte, fuhr er fort: »Ich leider nicht.«
    »Oh?«
    »Sie verbergen seine wahre Natur vor ihm. Der Mond war dreimal voll, seit Sie zu uns gekommen sind, und er hat sich nicht ein einziges Mal verwandelt.«
    »Gott sei Dank, nicht! Wenn Sie wünschten, dass der Junge zu einer unverständigen Bestie erzogen wird, hätten Sie mich doch bestimmt längst entlassen …«
    »Hören Sie auf, Speranza! Der Junge würde es mir nie verzeihen, wenn ich Sie gehen ließe. Und doch …«
    »Vielleicht ist es wahr, dass Sie sein Vater sind. Aber er muss auch eine Mutter gehabt haben. Und seine Mutter war nicht so wie Sie. So viel steht fest. Und sind Sie auch der Vater all seiner verschiedenen Persönlichkeiten? Oder vielleicht nur der Vater von Jonas Kay, jenes Schattenwesens, von dem ich ihn erlösen möchte?«

    »Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass Johnny Kindred seine wahre Persönlichkeit ist? Habe ich Ihnen nicht erzählt, Speranza, dass ich mich seiner Mutter als John Kay vorstellte, als ich sie in Whitechapel besuchte? Der Junge möchte wie sein Vater werden. Deshalb hat er seinen Namen angenommen …«
    »Wir kämpfen um seine Seele, Graf.«
    Er dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Ja, ich vermute, das tun wir.«
    »Und Sie begehren mich nicht mehr, Graf? Sie bedrängen mich nicht mehr mit Ihrer Aufmerksamkeit …«
    »Im Gegenteil, Mademoiselle. Ich habe ein Höchstmaß an Selbstbeherrschung aufgeboten. Man sollte niemals seine Feinde lieben, nicht wahr?«
    »Bin ich Ihre Feindin?«
    »Das haben Sie mir eben erklärt.«
    Speranza schlürfte ihren Kaffee. Bald würden auch die anderen aufstehen und sich zum Frühstück versammeln: Dr. Szymanowski; die kreischende Baronin von Dittersdorf, die in jener ersten Nacht in Wien alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte; Azucena, die Zigeunerin; Vater Alexandras, der orthodoxe Priester, der auch die Lykanthropie predigte; und die Übrigen, insgesamt etwa fünfundzwanzig an der Zahl. Sie alle reisten natürlich mit ihren Dienern; der Priester hatte sogar seinen eigenen Beichtvater mitgenommen. Es waren so viele, und sie war allein; wie konnte sie hoffen, zu gewinnen? Und der Graf: Obwohl das Erlebnis ihrer letzten Bahnfahrt sich nicht wiederholt hatte, war die dunkle Anziehungskraft, die er auf sie ausübte, im Lauf der Zeit keinesfalls schwächer geworden.
    Aber sie wusste auch, dass eine Geliebte im Dakota-Territorium auf ihn wartete; wie es bei seiner Art Brauch war, musste die Leitwölfin vorangehen und die Bruthöhle einrichten.
    In wenigen Tagen würde sie Natalia Stravinskaya kennenlernen. Was für eine Frau würde die Geliebte des Grafen sein? Zu ihrem eigenen Entsetzen hatte sie begonnen, sich selbst in dieser
Position zu sehen. Und die Vorstellung hatte in ihr nicht das Gefühl tiefster Schmach ausgelöst, das sie ihrer Meinung nach hätte empfinden müssen.
    Ich kann mich nicht mit einem Tier vereinigen, dachte sie. Ich muss die Grenze ziehen!
    Aber der Graf fixierte sie immer noch mit seinem durchdringenden Blick - bannte sie - ließ sie schaudern.

4
    Columbus, Nebraska
    »Garfield zum Präsidenten ernannt! James G. Blaine wird Staatssekretär! Kongress in Aufruhr!«
    Teddy rief die Schlagzeilen aus, während er und Johnny durch die Wagen der ersten Klasse liefen. Er trug eine Lederschürze, in deren Taschen Zeitungen, Tabak, Medizin und Trockenfleisch steckten. Sie kamen durch rauchvernebelte Wagen, in denen Männer mit Pokergesichtern an Kartentischen saßen; durch einen Salonwagen, wo die Passagiere zu den Klängen eines Klaviers herumschlenderten und die Damen ihre Straußenfedern zur Schau stellten, während

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