Wolfsruf
die Männer alle wie Dandys aussahen. Johnny hatte den ganzen Winter in solcher Gesellschaft zugebracht; er interessierte sich viel mehr für die zweite Klasse. Dort saßen grimmige Männer mit Revolvergürteln; Soldaten; Goldgräber; Frauen, die sich nicht scheuten, laut zu fluchen; katholische Priester; Kinder mit schmutzigen Gesichtern. Sie starrten Johnny in seinen kostbaren Kleidern neugierig und neidisch an.
»Kopfschmerzen? Krämpfe? Hier bekommen Sie Gesslers magische Kopfschmerz-Waffeln«, sagte Teddy zu einer alten Frau, die sich die Hände an die Schläfen presste. »Das macht fünf Cent.« Dann drehte er sich zu Johnny um. »Komm mit!
Willst du mal echtes Elend sehen? Wir gehen in die dritte Klasse.«
Sie erreichten den nächsten Wagen. Teddy hatte recht. Hier hockten die Passagiere auf blankem Stroh: Männer, Frauen und Kinder in zerschlissenen Kleidern; manche starrten apathisch vor sich hin, andere unterhielten sich in fremden Sprachen; Johnny hörte Polnisch, Deutsch, Italienisch und Kroatisch. »Einwanderer«, erläuterte Teddy. »Auf dem Weg nach Kalifornien. Sie haben ihre letzten Pennies zusammengekratzt, damit sie die achtzig Dollar bis nach Sacramento bezahlen können.« Die Luft stank nach ungewaschenen Leibern. Das Stroh, der Staub ließen Johnny husten. Er fühlte sich unwohl, das Bild erinnerte ihn zu sehr an sein letztes Zuhause. Das Irrenhaus.
»Die kaufen sowieso nichts«, sagte Teddy und zerrte Johnny wieder hinaus.
Als sie zurück in der zweiten Klasse waren, sah Johnny einen Indianer.
Er saß ganz allein; ein alter Mann mit fast weißem, geflochtenem Haar. Sein Antlitz war von tiefen Falten gezeichnet; seine Brauen waren zusammengezogen. Er döste an einem offenen Fenster. Im Schlaf kratzte er sich die breite, flache Nase. In seinem Haar steckte eine einzelne Feder, die im Wind zitterte.
Johnny spürte, dass Jonas sich regte. »Bleib still!«, flüsterte er in Gedanken. »Du hast hier draußen nichts zu suchen.« Laut fragte er: »Wer ist das?«
Teddy antwortete: »Ach, der fährt immer zwischen Omaha und Cheyenne hin und her, genau wie ich. Als sie den Vertrag gemacht haben, damit sie die Eisenbahn bauen durften, haben sie ein paar von den Indianerhäuptlingen erlaubt, ihr Leben lang umsonst mit der Eisenbahn zu fahren. Ich glaub’ nicht, dass der hier dazugehört hat, aber für die U. P. sieht eine Rothaut wie die andere aus.«
Der Indianer wachte auf. Johnny trat einen Schritt zurück. Sie schauten einander an. Plötzlich begann der Indianer zu lächeln. Und begann in einem pfeifenden Falsett zu singen: »Kola anpa zi kin wana hinape lo! Hehaul wani ye lo!«
»Was heißt das?«
Teddy zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht; ich erinnere mich kaum an die Indianersprache. Ich glaub’, es ist ein Shungmanitu olowan, ein Wolfslied.«
»Ich glaube, er will, dass wir Freunde werden.«
»Nimm dich in acht, Johnny.« Teddy wollte ihn wegziehen, aber Johnny konnte den Blick nicht von dem alten Indianer abwenden.
Später, auf der Plattform zwischen zwei Wagen, betrachtete Johnny die Landschaft. Grün, grün, ein unendliches grünes Meer. Und die Luft war frisch, wie nach einem Sommergewitter.
Teddy fragte: »Wie hast du das gemeint, als du gesagt hast, dass du mich verstehst? Du bist kein Mischling. Hier, nimm dir.«
Johnny nahm den Kautabak und schob ihn sich in den Mund. Er versuchte, seinen Freund zu imitieren, und kaute darauf herum. »Aber ich bin ein Mischling. Ich bin ein Findelkind. Ich habe mein Leben lang nach meinem Vater gesucht, und jetzt glaube ich, dass ich ihn gefunden habe, und er erklärt mir, dass ich nur zur Hälfte Mensch bin.«
»Du schwafelst dummes Zeug, Kumpel.« »Nein, es stimmt. Der Indianer hat das sofort begriffen. Ich weiß nicht, warum, aber er hat es begriffen. Was war das überhaupt für ein Wolfslied?« Johnny war überzeugt, dass sein Freund mehr wusste, als er zugeben wollte.
»Als ich noch bei meiner Ma lebte, habe ich einmal so ein Lied gehört. Ein paar Männer sind von einer Kriegsfeier zurückgekommen, und einer von ihnen, der freundlich zu mir war, weil er mein Onkel war, sagte zu mir: ›Als wir über den
Hügel ins Lager der Feinde kamen, haben wir ein Rudel Wölfe singen hören.‹ Und dann sang er mir das Lied vor. Es heißt: ›Es dämmert, mein Freund. Also lebe ich noch.‹«
»Wie konnte er verstehen, was die Wölfe gesungen haben?«
»Keine Ahnung.«
Claggart war sehr mit sich zufrieden, als er in den Salonwagen
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