Wolfsschatten - Handeland, L: Wolfsschatten
„Wenn du nicht dachtest, dass ich die Einladung annehmen würde, warum hast du mich dann überhaupt gefragt?“
Ich hatte ihn eingeladen, um mich zu vergewissern, dass er kein Gestaltwandler war, nur konnte ich ihm das schlecht sagen. „Ich weiß nicht genau.“
„Bist du nervös?“
„Was?“ Ja . „Wieso?“
„Der Wolf. Wir sprachen darüber, dass er tollwütig sein könnte.“
Ach ja, der Wolf. Richtig.
„Ich glaube nicht, dass er das ist.“ Ich hatte keine Ahnung, was dieses Biest war, aber „tollwütig“ stand nicht länger auf meiner Liste.
„Man sagt, ein Wolf sei ein Bote aus der Geisterwelt.“
Ich zuckte wieder zusammen, verschüttete wieder Bier. Dieses Mal ließ ich es, wo es war.
„Ein Wolf, der an einem Ort, wo es keine Wölfe geben dürfte, so plötzlich auftaucht, wie er verschwindet. Erzähl mir nicht, dass du nicht selbst schon daran gedacht hast.“
Das hatte ich nicht. Bis jetzt.
Der Wolf war kein Gestaltwandler – zumindest keiner, von dem ich je gehört hätte – , also könnte er durchaus ein Bote sein. Und da ich die Einzige war, die ihn gesehen hatte, musste ich davon ausgehen, dass die Botschaft für mich bestimmt war.
„Was weißt du über Botenwölfe?“, fragte ich.
„Nur das, was die Legende besagt.“
„Nämlich?“
„Deine Urgroßmutter hat dir nie davon erzählt?“ Ich schüttelte den Kopf, und er runzelte die Stirn. „Was hat sie dir denn erzählt?“
„Hauptsächlich Familienkram.“
Da meine Mutter sich aus dem Staub gemacht hatte und meine Großmutter vor meiner Geburt gestorben war, war Rose in großer Sorge gewesen, dass unsere Familiengeschichte ihr ins Grab folgen würde. Leider hatte die viele Zeit, die sie darauf verwendete, mir zu erzählen, wer mit wem verwandt war, kaum Raum dafür gelassen, mich in der Sprache und den Mythen zu unterrichten – selbst wenn ich dem gegenüber aufgeschlossen gewesen wäre.
„Dies ist die Geschichte, die der alte Mann mir erzählte, als ich ein Junge war“, begann Walker. „Wann immer jemand aus dem Land der Dämmerung mit jenen kommunizieren muss, die noch in dieser Welt sind, schickt er einen Botenwolf aus dem Westen.“
Ich guckte zu den Bäumen, zwischen denen der Wolf aufgetaucht war. Ja, Westen war richtig.
„Den Cherokee gilt der Wolf als heilig“, fuhr Walker fort. „Man darf ihn nicht töten, ansonsten laufen wir Gefahr auszusterben.“
„Davon habe ich noch nie gehört.“
„Hast du je einen Wolf getötet?“
„Bisher nicht.“ Ich dachte nach. „Wie könnte man einen Geisterwolf überhaupt töten?“
„Ich war stets der Überzeugung, dass es sich bei den Boten um echte Wölfe handelt“, erwiderte er, „daher das Tabu, sie zu töten. Es sei denn, man wäre ein Wolfsjäger.“
„Du meinst, so wie ein Adlerjäger?“ Mein Blick haftete an seiner Feder.
„Exakt.“
Nach Tradition der Cherokee durften nur bestimmte Menschen einen Adler töten – sie mussten die Methode und die Gebete kennen, die Vorraussetzung waren, um einen solch ehrfurchtgebietenden Raubvogel zu unterwerfen, ohne dass der Jäger und seine Nachkommen dafür verflucht wurden. Ich hatte von ähnlichen Regeln in Bezug auf Wölfe gehört – töte einen, und du bist auf ewig verflucht, zusammen mit deinen Kindern und Kindeskindern.
„Bist du etwa ein Adlerjäger?“
Obwohl dies eine Ehrenbezeichnung war, klang meine Frage ein wenig beleidigend. Das hatte ich nicht beabsichtigt.
„Nein, das bin ich nicht.“
„Du weißt, dass sich nur große Krieger mit der Feder eines Adlers schmücken dürfen?“
Er wandte sich ab und richtete den Blick auf die langsam untergehende Sonne. „Ja, das weiß ich“, bestätigte er leise.
Ich wollte ihn schon fragen, was er getan hatte, um als ein großer Krieger zu gelten, als ich die Tätowierung auf seinem mir zugewandten Rücken bemerkte.
Hoch an seinem linken Schulterblatt prangte das Bildnis eines Adlers, der mit abgespreizten Krallen auf seine ahnungslose Beute herabstieß. Ich hatte noch nie von einem tätowierten Cherokee gehört. Bedächtig streckte ich die Hand aus und berührte sie.
Er bewegte sich so schnell, dass ich nicht die Zeit hatte, meine Finger, geschweige denn mich zurückzuziehen. Die Bierdose rutschte mir aus der Hand, fiel zu Boden, überschlug sich und verschwand im Gras. Meine Hand verharrte dort in der Luft, wo seine Schulter gewesen war; seine Finger schlossen sich um mein Handgelenk.
„Was … ?“, war alles, was ich stammeln
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