Wolfstage (German Edition)
einen
entscheidenden Hinweis hätte geben können, war ihr nicht bewusst, dass genau
dieser Aspekt bedeutsam für die Suche nach Kati sein könnte.
Johanna hatte die Hand schon an der Klinke, als sie sich noch einmal
umdrehte. »Ihr Mann hat bereits Feierabend gemacht?«
Marie Lindner zog die Achseln hoch. »Ja, hier war nicht mehr viel
los. Er wollte einen Freund besuchen.« Sie versuchte zu lächeln.
Johanna sah sie abwartend an.
»Er muss sich ein bisschen ablenken, verstehen Sie?«
»Ja. Ja, das verstehe ich.« Johanna nickte und wandte sich zum
Gehen.
Als sie auf die Straße trat, läuteten die Glocken. Schuster stellte
sich neben sie. »Ins Hotel?«
Johanna überlegte nur kurz. »Ja. Ich möchte morgen früh gleich mit
der Buchhändlerin sprechen. Ich würde es begrüßen, wenn Sie dabei wären.«
Schusters Ohren färbten sich rötlich. »Klar, gerne.«
3
Die Hollywoodschaukel stand immer noch mitten auf der
Terrasse. Die bunten Auflagen waren schmuddelig, und an den Metallverstrebungen
nagten Rostflecken. Viele Stunden hatte Tibors Mutter darauf gelegen und
zufrieden in den Garten geblickt. Ohne zu schaukeln. Vor sich auf dem Tisch
eine Tasse Tee und einen Teller mit Weißbrotschnittchen. Der Tee war meist mit
Rum versetzt gewesen.
Das ganze Haus machte einen vernachlässigten Eindruck. Zerkratzte
Fußböden, schmierige Wände, angeschlagene Fliesen im Bad, eine Küche, die nicht
mal vor zwanzig Jahren auf dem neuesten technischen Stand gewesen war, dafür
aber blitzblank. Meistens jedenfalls – wenn nicht allzu viel Rum im Tee
gewesen war. Nun sah man ihr an, dass sie in den letzten Jahren selten
gründlich gereinigt worden war.
Tibor ging einige Schritte in den Garten. Links wucherte Unkraut im
ehemaligen Gemüsebeet, der Rasen stand mehr als zwanzig Zentimeter hoch, und
die Äste der beiden Kirschbäume sprossen nach allen Seiten aus. Das Baumhaus
gab es auch noch. Er blickte in die Krone hinauf. Sie hatten es zusammen gebaut –
er und sein Vater. In einem Sommer voll flirrender Hitze, als er zum ersten Mal
das Gefühl gehabt hatte, alles würde in Ordnung kommen und dieses Leben könnte
doch irgendwie schön werden. Tibor verzog den Mund. Ein Irrtum. Einer von
vielen. Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt hatte. Eine von vielen. Ein
Geräusch an der Terrassentür ließ ihn zusammenfahren.
»Ich wollte dich nicht erschrecken, Junge«, sagte Ludwig im Näherkommen.
Tibor lächelte. »Ich war etwas in Gedanken, Onkel Ludwig.«
»Kann ich verstehen.«
Ludwig stellte sich neben seinen Neffen und kramte einen Zigarillo
aus der Westentasche. So lange Tibor zurückdenken konnte, hatte sein Onkel
Zigarillos geraucht und Westen getragen. Dazu meist braune Altherrenhosen mit
Hosenträgern, auch als er noch gar kein alter Herr gewesen war, und klobiges
Schuhwerk.
»Es wäre schön gewesen, wenn sie dich noch einmal hätte sehen
können. Ich glaube, sie hat es sich sehr gewünscht«, bemerkte Ludwig mit leiser
Stimme.
Es ist das Letzte, was ich mir gewünscht habe, dachte Tibor. »Ich
habe zu spät erfahren, wie schlecht es ihr geht«, sagte er stattdessen.
Ludwig hatte seine Halbschwester aufrichtig geliebt, auch wenn er
sie kaum gekannt hatte. Oder gerade deshalb. Es war unnötig, ihn zu erschrecken
und mit alten Geschichten zu belasten, die längst vorbei waren.
»Ich weiß, Junge, ich weiß.« Ludwig sah ihn von der Seite an. »Wann
warst du zum letzten Mal hier?«
»Vor zehn Jahren«, erwiderte Tibor prompt.
Damals hatte sein Vater seinen ersten Schlaganfall gehabt. Niemand
hatte damit gerechnet, dass er ihn überleben würde, aber der Alte war schon
immer zäh gewesen und schaffte es, noch einige Jahre durchzuhalten, auch ohne
dass Tibor ihm die Daumen gedrückt hätte.
»Ich passe nicht mehr hierher«, fügte Tibor nach kurzer Pause hinzu.
»Was für ein Unsinn.«
»Das ist kein Unsinn.«
»Na ja«, Ludwig paffte eine dunkle Rauchwolke in Richtung Baumhaus
und schob den Daumen der linken Hand unter den Hosenträger. »Ihr jungen Leute
müsst immer erst die Welt sehen, bevor ihr merkt, wie schön –«
»Bitte keine kitschigen Heimatbeschwörungen, Onkel Ludwig!« Tibor
stöhnte leise auf. »Ich bin nur zurückgekommen, weil …« Weil es die beiden
Alten nicht mehr gibt, dachte er. »Weil es hier einiges zu regeln gibt.« Er hob
die Hände. »Zum Beispiel muss das Haus renoviert werden. Ich muss mich um
Handwerker kümmern. In dem verlotterten Zustand kann ich es kaum
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