Wolfstage (German Edition)
Außerdem hat sie einen
ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.«
Die Beschreibung klang nach einem Menschen, den Johanna auf Anhieb
mögen könnte. »Wofür interessiert sie sich besonders?«
»Das lässt sich schwer eingrenzen, denn es gibt kaum etwas, was Kati
nicht spannend findet, und natürlich bieten sich hier jeden Tag aufs Neue
zahllose Anregungen«, erläuterte Kreisler. »Wenn ein Kunde ein Buch über den
Dalai Lama kauft, fängt Kati sofort an, sich über den Tibetischen Buddhismus
schlauzumachen. Klimaschutz hat sie interessiert, aber zum Beispiel auch
Mountainbiken, Bergklettern und Mode. Und, stellen Sie sich vor, vor einiger
Zeit fing sie auf einmal an, sich mit Wölfen zu beschäftigen.« Die Buchhändlerin
fasste sich an den Kopf, als könne sie es immer noch nicht fassen.
»Mit Wölfen?«
»Ja. Vielleicht haben Sie davon gehört, dass sich im letzten Winter,
der so unglaublich lang und hart war, hier in der Gegend einige Wölfe
angesiedelt haben. Ein kleines Rudel, wahrscheinlich bestehend aus zwei
erwachsenen und einigen Jungtieren, wurde im Elm und auch im Drömling
gesichtet. Es waren sogar ein paar Wissenschaftler aus der Lausitz vor Ort, wo
ja seit Jahren Wölfe leben. Eine Journalistin aus Königslutter hat über das
Thema recherchiert und einen ganzen Stapel wissenschaftlicher Abhandlungen
bestellt. Wenn ich mich recht erinnere, stand was darüber in der Zeitung.
Jedenfalls war Kati sofort Feuer und Flamme und hat sich gemeinsam mit der
Journalistin über Leute aus der Gegend aufgeregt, die den Tieren nur mit
Vorurteilen begegnen und sie am liebsten abknallen würden.«
Johanna nickte höflich und unterdrückte ein Seufzen. Wenn die Leute
hier sonst keine Probleme hatten, konnten sie sich glücklich schätzen. »Haben
Sie den Namen der Journalistin parat?«
»Ja: Emilie Funke. Sie wohnt etwas außerhalb von Bornum. Brauchen
Sie die genaue Adresse?«
»Danke, später vielleicht. Fahren Sie zunächst einmal fort, bitte.«
»Ja, was ich damit eigentlich sagen will«, setzte die Buchhändlerin
erneut an, »Kati hat ein offenes Ohr für alles Mögliche und ist doch kein
oberflächlicher Mensch.« Sie runzelte die Stirn.
»Aber?«, hakte Johanna nach.
Kreisler blickte wieder hoch. »Ich weiß gar nicht, ob ich mich dazu
äußern sollte …«
»Vielleicht ist es wichtig«, ermunterte Johanna sie.
»Ich bin kein geschwätziger Typ«, griff Kreisler den Faden wieder
auf, nachdem sie einer Kundin, die gerade zur Tür hinausging, freundlich
zugenickt hatte. »Nur damit Sie mich nicht falsch verstehen.«
»Garantiert nicht«, betonte Johanna und übertünchte im letzten
Augenblick ihren ironischen Unterton mit einem Räuspern. Alle Menschen
schwätzten gern, davon war sie überzeugt. Zumindest neunzig Prozent. Immerhin
gab es einige, denen dieses Laster peinlich war. Das ehrte Gertrud Kreisler.
»Katis beste Freundin ist das genaue Gegenteil von ihr – und
ich habe die Freundschaft, so weit ich sie von Weitem beurteilen kann, nie so
richtig verstanden, muss ich vielleicht aber auch gar nicht …« Kreisler
brach ab und runzelte erneut die Stirn.
»Vergessen Sie bitte nicht, dass jeder Hinweis zu einer Spur führen
kann, selbst wenn er Ihnen momentan völlig aus dem Zusammenhang gerissen und
nebensächlich vorkommt«, schob Johanna hinterher. »Also – erzählen Sie
einfach weiter.«
»Ja, natürlich, so gesehen … Also, Eva Blum, Katis Freundin,
ist Kosmetikerin und steckt ihre stets perfekt gepuderte Nase ungefähr so
häufig in ein gutes Buch wie ein brasilianischer Kakadu.«
»Oh.« Johanna war beeindruckt. Den Spruch würde sie bei Gelegenheit
gern zitieren.
»Auf mich wirkt sie unsicher, obwohl sie gut aussieht – Modelfigur,
entsprechende Klamotten, viel Schminke natürlich und so weiter. Wenn Sie
verstehen, was ich meine. Aber zum Thema Stil hat sie nicht viel beizutragen,
falls die Bemerkung erlaubt ist.«
Johanna nickte interessiert. Daher wehte also der Wind. Neid. Vielleicht
sogar Eifersucht. »Eva Blum, sagten Sie?«
»Ja. Sie hat gleich um die Ecke, keine fünf Minuten von hier, in der
Neuen Straße, einen kleinen Salon. Hat ihr wahrscheinlich der Freund
finanziert.« Sie zog eine Augenbraue hoch. Ihre Meinung über Eva Blum stand ihr
in hektisch blinkenden Leuchtbuchstaben quer über die Stirn geschrieben.
»Wie lange sind Kati und Eva befreundet?«
»Hm, zwei Jahre in etwa. Kati war gerade mit ihrer Ausbildung
fertig, soweit ich das in Erinnerung habe. Ja, genau, sie
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