Wolfstage (German Edition)
gefallen war, würden die Umstände
vielleicht nie bekannt werden – es sei denn durch einen dieser berühmten
Zufälle, bei denen die Hinweise plötzlich wie durch Zauberhand auftauchten.
Schuster wollte gerade Feierabend machen.
»Hätten Sie noch Zeit, ein paar Informationen für mich abzurufen?«,
fragte Johanna. »Oder muss ich Nabold bitten?« Ihr Blick sprach Bände.
Schuster grinste. »Nee, das mach ich schon. Worum geht es denn?«
»Um eine Tagungsstätte im Reitlingstal. Gucken Sie mal, was Sie dazu
finden können.«
»Mach ich.«
»Klasse. Ich komme gleich zu Ihnen«, sagte Johanna. »Ich will mich
nur mal kurz frisch machen. Mein Deo hat schon vor Stunden versagt.«
Dazu sagte Schuster nichts.
Als Johanna zurückkam, beendete Schuster gerade ein Telefonat. Er
sah sie an. »Das war Gertrud Kreisler. Sie bittet Sie, in der Buchhandlung
vorbeizukommen.«
»Jetzt gleich? Warum?«
»Sie hat was Seltsames gefunden. Und sie klang dringend.«
Das Geschäft hatte bereits geschlossen, und Gertrud
Kreisler bat Johanna ins Büro. Sie eilte voraus zu ihrem Schreibtisch,
verharrte kurz und drehte sich dann mit ausgestreckten Armen wieder zu Johanna
um. Quer über ihren Händen lag ein Pfeil, den sie Johanna wie eine Trophäe
präsentierte.
»Der war vorhin in meinem Briefkasten«, verkündete sie mit nahezu
feierlichem Ernst. Ihre Wangen waren von zartem Rosé übergossen, das sich
allmählich dunkler färbte.
Johanna starrte den Pfeil an und blieb stumm.
»Ich habe noch mal nach der Post gesehen, bevor ich nach Hause gehen
wollte – wie jeden Abend«, erläuterte die Buchhändlerin.
Johannas Blick wanderte langsam zu Kreislers Augen hoch. »Und?«
»Ja, verstehen Sie denn nicht?«
»Um ehrlich zu sein – nein.«
Für einen kurzen Augenblick spiegelte Kreislers Gesichtsausdruck
fassungsloses Entsetzen über so viel Beschränktheit wider. Sie atmete
angestrengt ein und schüttelte den Kopf, während sie die Arme langsam wieder
sinken ließ und sich schließlich vernehmlich räusperte. »Könnte das nicht ein
Hinweis sein?«
»Worauf?«
»Aber ich bitte Sie – machen Sie es mir doch nicht so schwer!
Ich denke natürlich an Kati.«
Johanna verschränkte die Arme vor der Brust. »Erklären Sie mir
bitte, was Kati mit diesem Pfeil zu tun haben soll.«
»Das kann ich natürlich nicht, aber …«
»Ja?«
»Finden Sie es nicht ungewöhnlich, dass jemand so etwas in meinen
Briefkasten wirft, wenige Tage nach Katis Verschwinden?« Die Buchhändlerin sah
sie auffordernd an.
Johanna zog die Augenbrauen hoch. »Nun …«
»Ich sehe da jedenfalls einen Zusammenhang.«
Sie hat zu viele von den Krimis aus ihrem Laden gelesen, dachte
Johanna. Und ein bisschen hysterisch ist sie auch. Und einsam. Sie vermisst
Kati.
»Helfen Sie mir doch mal auf die Sprünge«, sagte sie schließlich freundlich.
»Was könnte denn der Pfeil in Bezug auf Kati beziehungsweise ihr Verschwinden
bedeuten?« Dass sie von Comanchen entführt wurde?, flüsterte eine hämische
Stimme in ihr.
»Ich sagte doch schon, dass ich das natürlich nicht weiß, aber …«
Plötzlich sah Gertrud Kreisler müde aus. Sie senkte den Blick und zog die
Achseln hoch.
»Vielleicht hat sich einfach nur jemand einen Scherz mit Ihnen
erlaubt«, schlug Johanna versöhnlich vor. »Das Ganze war ein Streich von
Kindern, die hier zufällig vorbeigekommen sind oder in der Nähe gespielt haben.
Und da Sie so sehr mit Katis Verschwinden beschäftigt sind, stellen Sie in der
Aufregung einen Bezug her.«
Kreisler sah wieder hoch. »Meinen Sie wirklich?«
»Das wäre doch zumindest eine plausible Erklärung, finden Sie
nicht?«
»Heutzutage spielen Kinder nicht mehr mit Pfeil und Bogen«, wandte
die Buchhändlerin ein. »Sie sitzen vor dem PC und
kämpfen in irgendeiner Parallelwelt gegen Monster oder, noch schlimmer, laufen
mit richtigen Knarren durch die Gegend. Außerdem sieht dieser Pfeil nicht wie
ein Kinderspielzeug aus.«
Johanna streckte die Hand aus und nahm ihn an sich. Damit hatte Kreisler
allerdings recht. Der Pfeil war auffallend schwer und mit zwei Federn sowie
einer winzigen Gravur versehen.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, lenkte sie schließlich ein. »Ich
nehme das gute Stück an mich und lasse es untersuchen. Vielleicht haben Sie ja
doch recht, und wir sollten überprüfen, was es damit auf sich hat. War der
Pfeil irgendwie eingewickelt oder verpackt?«
Kreisler schüttelte den Kopf. »Nein. So, wie sie ihn da vor sich
Weitere Kostenlose Bücher