Wolfstränen - Roman (German Edition)
Wölfe, nichts unheimliches.
Es würde ein Kinderspiel sein, die Tür zu öffnen. Sie ging in die Küche und nahm einen Draht aus einer Schublade. Sekunden später starrte sie erschüttert auf den Dietrich, den sie sich zurechtgebogen hatte. Was tat sie? Sie war dabei, Blackholes Vertrauen zu brechen. Nell schämte sich bitterlich und warf den Draht auf die Anrichte. Sie zögerte, dann lachte sie hart und schob den Dietrich in ihre Schürze.
Sie lebte in diesem Haus und falls die Ursache der grauenvollen Geräusche Gefahr bedeutete, musste sie etwas dagegen tun, versuchte sie ihren Plan vor sich zu rechtfertigen. Manchmal war es besser, Dingen auf den Grund zu gehen. Naivität konnte gefährlich sein.
Sir rannte die Treppe hoch. Es mußte schnell geschehen, bevor sie ihren Entschluss bereute.
Die steckte den Draht in das Schloss, drehte und fummelte, zog und drückte. Es war keine Seltenheit, daß Türen so geöffnet wurden. Schlüssel gingen oft verloren und es konnte eine kleine Ewigkeit dauern, bis ein Schlosser neue angefertigt hatte. Diese Tür leistete Widerstand. Nell hielt inne und lauschte. War da jemand im Haus? Waren Blackhole und Drought zurückgekehrt? Nein – ihr schlechtes Gewissen gaukelte ihr etwas vor.
Die Tür schnappte auf.
Nell hielt unwillkürlich den Atem an und sprang zurück an die Wand. Sie reckte ihren Hals und versuchte etwas zu erkennen. In Blackholes Zimmer war es völlig dunkel. Die Fensterläden waren geschlossen und schwarze Vorhänge sperrten den Tag aus.
Nell griff neben sich und fand die Notkerze. Sie nahm ein Schwefelhölzchen aus ihrer Schürze und zündete mit bebenden Händen den Docht an. Jeden Moment erwartete sie, daß Wölfe aus dem Zimmer gestürmt kämen um sie zu zerreißen. Sie lauschte so angestrengt, daß sie ihr eigenes Herz pochen hörte. Alles war still – totenstill.
Langsam schob sie sich in den Raum hinein. Sie hielt die Kerze vor sich weg. Rechts der Tür hing ein Gaslicht an der Wand. Sekunden später zischte eine helle Flamme auf und tauchte den Raum in ein warmes Licht. Nell pustete ihre Kerze aus und sah sich um. Auf den ersten Blick handelte es sich um ein ganz gewöhnliches Zimmer. Es roch nach Tabak. Ein mächtiger Schreibtisch, zwei hohe Bücherregale, eine Vitrine mit Butzenscheiben, Teppiche an den Wänden, Reiseutensilien als Dekoration, ein Globus, und neben dem Fenster eine kleine Sitzecke, ein rundes Tischchen und zwei Stühle.
Nell ging um den Schreibtisch herum zur Vitrine. Das erste, was ihr auffiel, war eine Glaskugel, so groß wie ein Kinderkopf. Sie beherrschte die Vitrine wie ein stummer Wächter. Ein Regal darunter lagen schwarze Tücher, ordentlich gefaltet. Nell konnte ihren Blick nicht von der Kugel lösen. Einen Herzschlag lang meinte sie, im Inneren des Glases ein Licht aufzucken zu sehen. Sie schrak zurück und blinzelte. Kein Licht, kein Flackern.
Auf dem Tisch neben dem Fenster standen zwei Gläser. Nell schnupperte daran. Whiskey. Mit wem hatte Blackhole getrunken? Etwa mit Drought?
Butlerehre bedeutet Distanz!, erinnerte sie sich an Blackholes Worte.
Auf dem Schreibtisch lag eine Mappe. Nell öffnete sie vorsichtig. Papiere. Nichts Aufregendes! Nichts, das auf brüllende Wölfe hinwies.
Nell musterte die Bücherreihen. Dickens, Collins, Defoe und ein Band mit exotischen Schriftzeichen auf dem Lederrücken. Nell zog das schwere Buch aus dem Regal und schlug es auf. Holzstiche, die verzerrte Fratzen zeigten. Sternenkonstellationen, geometrische Formen und ... Wölfe. Wölfe, die den Mond anheulen, Wölfe, die ein Opfer reißen, Wölfe, die sie aus den Buchseiten heraus anstarren. Nell schlug das Buch zu und schob es zurück.
Ein kalter Hauch legte sich auf ihren Körper, und sie bekam eine Gänsehaut. Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Wände, die Augen haben, wispernde Stimmen, und nun war sie sicher: Im Inneren der Glaskugel flackerte ein Licht.
Wer war Adrian Blackhole wirklich?
Mörder!, tönte die Stimme des Bandenanführers in ihrem Kopf.
Nell war versucht, die Fenster zu öffnen, entschied sich dann aber dagegen. Sie zog die oberste Schreibtischschublade auf. Papiere. Die nächste Schublade. Federn, Tinte, Schmuck. Die nächste. Nell prallte zurück. Etwas glotzte sie an. Sie schrie unterdrückt und schlug die Handfläche vor ihren Mund. Es sah aus wie ein abgeschnittener Kopf. Es handelte sich um eine Maske. Sie schien ganz aus Silber gefertigt und glitzerte im Gaslicht. Ihre Augenöffnungen
Weitere Kostenlose Bücher