Wolkenfern (German Edition)
werden anstatt Mischling und Halbwaise von Piaskowa Góra. Vielleicht später, nächstes Jahr, sagte Dominika, als Ruth, die jetzt so weit war, dass sie zurückkehren wollte, versuchte, sie zu einem Besuch in Kalifornien zu bewegen, und ihr versicherte, mit ein wenig Anstrengung würden ihre Papiere bestimmt gut genug für ein Visum sein. Willst du sie wirklich nicht treffen?, fragte Sara nach. Nein, Dominika wollte nicht. Später, sagte sie. Vielleicht nächstes Jahr.
Sara und Dominika kamen an einem Frühlingstag nach Gelnhausen. Über dem Städtchen trieben Wolken am Himmel, so weiß und bauschig wie auf einem Kinderbild. Wolkenfern – Dominika erinnerte sich an das Land, das sie und Małgosia Lipka sich beim Schuleschwänzen auf dem Dach vom Babel ausgedacht hatten. Wolkenfern, das schöne Wolkenfern, sie beide wollten es finden, sie beiden waren sicher, dass es existierte, irgendwo weit weg von Piaskowa Góra.
Grażynkas verheiratete Tochter Aniela Wolf wohnte in einem großen Haus, dessen asketische Einrichtung Jadzia nicht begeistert hätte, obwohl die Holzböden vor Sauberkeit glänzten, die Teppiche, weich wie die Felle großer sanftmütiger Tiere, gegen den Strich und mit dem Strich gebürstet wurden und die Kiefernholzmöbel nach Wald dufteten. Dominika gefielen die Lampenschirme, leichte, halb durchsichtige Papierkugeln. Auf Piaskowa Góra mussten die Kronleuchter fest und solide sein wie große Spinnen, die an der Decke hockten.
Dominika und Sara waren in einem kleinen Gästehaus mit zwei Zimmern untergebracht, das Haupthaus stand ihnen offen. In ihrer Freizeit halfen sie Aniela in der Küche oder saßen in der Tischlerwerkstatt ihres Mannes, der Möbel auf Bestellung anfertigte, Repliken französischer und italienischer Antiquitäten. Goldene Hobelspäne bedeckten den Boden wie die abgeschnittenen Locken einer ganzen Schar blonder Schönheiten. Herr und Frau Wolf hatten eine bewundernswerte Fähigkeit zu schweigen, und sie fragten nie; habt ihr vor zurückzugehen, oder wollt ihr die Familie herüberholen? Es reichte ihnen, dass Dominika und Sara auf Grażynkas Empfehlung kamen, und sie drängten ihre Gesellschaft nicht auf, schlugen nur vor: Bestimmt wollt ihr mal einen Ausflug zum Waldzoo machen, und eine halbe Stunde später waren sie schon mitten im Wald, wo melancholische Elche an den Zaun getrabt kamen, um sich die moosweichen Mäuler streicheln zu lassen.
In Anielas Konditorei Calypso arbeiteten außer Dominika und Sara noch ein älterer Konditor namens Helmut, der aus der Gegend stammte, und Ivo, ein Konditorkünstler, wie er sich selbst nannte. Ivo war ein junger Amerikaner aus einem Städtchen namens Harrison in Arkansas, und wegen seines tadellosen Auftretens sowie seines Sprachtalents war er auch Kellner im Calypso. Als Dominika Ivo zum ersten Mal sah, wusch er gerade unterm Wasserhahn Orangen, und im Sonnenglanz wirkte es, als fließe ein Strom flimmernder Lichtpartikel durch die Küche. Dominika fuhr der seltsame Gedanke durch den Kopf, dass so ihre verstorbene Zwillingsschwester hätte aussehen können, eine große schlanke Blondine mit blauen Augen und durchsichtigem Teint. Hallo!, rief Ivo und warf Dominika eine Orange zu wie einen Ball, hallo, ich bin Ivo der Schokoladenkönig, willkommen im Land der Süßigkeiten. Ich bin Künstler, nicht bloß Konditor, erklärte Ivo, das ist der Unterschied – und mit dem Konditorpinsel aus Wildschweinborsten malte er Schokoladenschnörkel auf die Marmorplatte, um dann – Hokuspokus – im nächsten Moment die erkalteten Formen mit einem kurzen Schubs des Fingernagels von der Platte zu lösen und hochzuheben, damit alle seinen Paradiesvogel bewundern konnten, die feine Äderung eines Blatts, einen Zweig aus dunkler Schokolade mit weißem Schokoladenraureif. Iss! Er reichte Dominika das Schokoladenwunder. Sie aß, er redete − so war es von Anfang an.
Ivo redet ohne Punkt und Komma, vor allem über Süßigkeiten, seine Geschichten sind wie Schlagsahne unter dem elektrischen Quirl, sie wächst und wächst, und alle außer Dominika bitten ihn gelegentlich, den Mund zu halten, weil ihnen der Kopf von all dem Reden platzt. Dominika hört geduldig zu, isst die von Ivo zubereiteten Desserts und wartet, denn seit sie in ihm ihre Zwillingsschwester gesehen hat, fühlt sie, dass unter dem Zuckerguss eine andere Geschichte liegt, die das Geheimnis dieses Verwandtschaftsgefühls erklärt. Red nur, Ivo, sagt sie ermunternd, das lässt sich der junge
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