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Wolkenfern (German Edition)

Wolkenfern (German Edition)

Titel: Wolkenfern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanna Bator
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Alles können wir messen und festlegen, sogar die normale und übermäßige Ansammlung von Gewebe auf dem Hintern, und als Bezugspunkt dient uns immer unser weißer Arsch.
    Saatjies überproportionierter Arsch jedenfalls sollte zur Attraktion des schönen London werden, der Hauptstadt der damaligen Welt, doch nicht nur mit diesem besonderen Schönheitsmerkmal sollte Saartjie die nach Exotik und Wildheit hungernden Gaffer anziehen. Der wahre Schatz der Hottentotten-Venus verbarg sich zwischen ihren Beinen: Sarah-Saartjie war eine wahre Fundgrube der Wunder, und wäre es nicht geboten gewesen, den Schein des Anstands zu wahren, hätte Hendrick ihr wahrscheinlich schon auf dem Schiff die Kleider vom Leib gerissen, um abzukassieren, indem er ihr so niedlich benanntes Hottentottenschürzchen zur Schau stellte. Bei den Khoi-Khoi beschwerten die älteren Frauen die Schamlippen der Mädchen mit Steinen, um sie so länger zu machen, denn das galt als ein Schönheitsmerkmal. Sinus pudoris, sagt Małgosia, wir haben auch einen Namen dafür, und zwar nicht nur einen. Ich bin Vertreterin eines alten Berufsstands, und seit Jahrhunderten gehört es zu unseren Hauptbeschäftigungen, Körper in normale und unnormale einzuteilen, was manchen Mediziner mehr interessiert hat als die Heilung. Sinus pudoris, das sind die übermäßig langgezogenen Schamlippen der Khoi-Khoi-Frauen. Wie muss der Gedanke daran das Blut der Londoner an düsteren Novembertagen in Wallung gebracht haben. Das wilde Afrika und seine wilde Fotze – das mit eigenen Augen zu sehen! Sara hat erzählt, erzählt Dominika, dass die Hottentotten-Venus im Käfig gezeigt wurde, sie sollte wild sein und schwarz und ihre riesigen Hinterbacken schütteln, die hier nicht als schön und begehrenswert galten, und selbst wenn sie begehrenswert waren, dann nicht als Objekt von Liebe und Sorge. In dieser Kuriositätenrolle traten auch andere Geschöpfe auf: siamesische Zwillinge, an den Hüften zusammengewachsen, die zu Klavierklängen allerliebst tanzten, ein Mädchen mit vier Beinen, ein Albinojunge, dessen Haut so dünn war, dass das Licht durch ihn hindurchschien und man das Innere seines Körpers sehen konnte, die Haupt- und Nebenflüsse seines Blutkreislaufs, die Windungen seines Gedärms, das schlagende Herz. Und was noch?, fragte Małgosia. Ein Elefantenmensch, dessen Gesicht mit Wucherungen überzogen war wie ein Felsbrocken, ein am ganzen Körper dicht behaartes Kind sowie die hässlichste Frau der Welt, die dennoch viele Bewunderer hatte, ein Gummimensch, ein Riese mit einem Kopf wie ein Ei und dem Gemüt eines fröhlichen Dreijährigen. Das war die neue Familie der Vorfahrin meiner Freundin Sara Jackson, erzählt Dominika. Die Hottentotten-Venus sollte in dieser Gesellschaft die wilde Frau spielen, das Glied zwischen dem Affen und uns, bitte sehr, meine Herrschaften, ein menstruierender Affe! Die Hottentotten-Venus war halbnackt im Käfig, die Brüste entblößt, die Möse anstandshalber mit einem pseudoafrikanischen Röckchen verhüllt, sie trug Perlenschmuck und die Felle wilder Tiere, die dem Publikum suggerierten, dass sie diese Tiere mit ihren eigenen Klauen gerissen und zerfetzt hatte, wie es sich für eine Wilde gehört.
    Damals entstand die Karikatur, die auf irgendeine unerfindliche Weise in den Besitz von Destinee geriet, Saras Urgroßmutter, die eine des Lesens und Schreibens unkundige Bedienstete in den Südstaaten Amerikas war. Hendrick hatte recht behalten, seine Saartjie wurde berühmt, bald ging er mit ihr auf Tournee durch Städte und Städtchen, denn auch in der Provinz wollte man die Hottentotten-Venus sehen. In Großbritannien galt seit 1807 das Verbot des Sklavenhandels, doch die Sklavenhaltung selbst wurde erst viel später abgeschafft. Jedenfalls ging Saartjie schließlich mit der gesamten Ausstellung wie ein Zirkustier in den Besitz eines anderen Veranstalters über und kam so nach Paris. Im Jahre 1814 war Paris das Zentrum der modernen Wissenschaften, und die Hottentotten-Venus erregte das Interesse nicht nur von Professor Georges Léopold Cuvier, dem sogenannten Napoleon der Wissenschaften, sondern auch von anderen Vertretern des Naturalismus und der aufkommenden Rassentheorien. Sara hat erzählt, erzählt Dominika, dass im Naturkundemuseum speziell für die geschätzte Welt der Naturwissenschaft Sondervorführungen dieses lebenden Exponats veranstaltet wurden. Wenn also in der Geschichte, die Uroma Destinee erzählte, ein Körnchen Wahrheit

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