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Wolkenfern (German Edition)

Wolkenfern (German Edition)

Titel: Wolkenfern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanna Bator
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Bild, das Sara so bezauberte, war eine Karikatur der Saartjie Baartman, einer Frau aus dem Stamme der Khoi-Khoi, die im neunzehnten Jahrhundert in den Städten Europas als exotische Kuriosität und Zwischenstufe zwischen Affe und Mensch zur Schau gestellt wurde, die Personifikation des schwarzen und wilden Afrika, den Blicken des weißen und zivilisierten Europa preisgegeben. Das wusste die kleine Sara natürlich nicht, und dank Destinees Geschichten gab sie dem Bild eine ganz andere Bedeutung. Für sie war es einfach Venus, die Schauspielerin aus Paris, stark, frei und schön, die auf einem kristallenen Kronleuchter flog. Die Frau auf der Abbildung war mächtig wie eine Königin, nackt, mit einer Zigarette im Mund, strahlte sie für Sara Stärke und Zärtlichkeit zugleich aus. Sara stellte sich vor, dass so ihre Mutter Shaunika ausgesehen hätte, wenn sie nicht gestorben wäre, und selbst so zu werden und hinaus in die Welt zu ziehen, das war eine verlockende Aussicht.
    Auf der Illustration sind die Worte kaum lesbar und die Zeichnung verblasst, doch als Sara lesen gelernt hatte, entzifferte sie, was in einer Rauchwolke über dem Kopf der Venus und unter ihren Füßen steht. Love and Beauty. Saartjee the Hottentot Venus, viel mehr ließ sich nicht ausmachen, nur noch die Worte Take care of … in einem Wölkchen, das in einen Fettfleck überging. Sara hat erzählt, erzählt Dominika, sie sei sicher gewesen, Venus wolle ihr auf diese Art und Weise eine Botschaft vermitteln, deren Sinn sie würde entdecken müssen. Sorgen für – aber für was? Sara überlegte sich, dass sie ja Krankenschwester werden könnte, oder Krankengymnastin, um Menschen nach einem Unfall zu helfen. Außer einem Papagei, den einmal ihr sporadisch erscheinender Großvater mitbrachte, wollte nur ein Mensch Saras Geschichten von der Venus anhören, und das war der Besitzer des Ladens American Values, der polnische Jude Icek Kac. Und das kam so. Einmal, als sie mit ihrer Oma in den Laden ging, um etwas zu kaufen, wollte Icek Kac ihr eine Puppe schenken, so eine blonde, rosige Plastikpuppe, aber Sara fragte, ob er keine andere habe, sie wollte lieber eine Puppe, die aussehe wie die schwarze Venus. Die schwarze Venus? Icek Kac überlegte. Vielleicht finden wir eine, aber zuerst musst du mir etwas mehr über sie erzählen. Zum ersten Mal wollte jemand ihre Geschichten hören! Sara hat erzählt, erzählt Dominika, sie sei dann immer öfter zu American Values gegangen und habe geholfen, die Waren auszupacken, die verhedderten Büstenhalter und Socken auseinanderzuwurschteln, die auf grellrosa Schildchen geschriebenen Preise aufzukleben, und auch die unwahrscheinlichste Geschichte von der Venus, die ihr in den Sinn kam, konnte Icek Kac nicht in Erstaunen versetzen. Kronleuchter aus Kristall? Warum nicht, aber ob Sara denn wisse, aus was man Kristall macht? Ob sie wisse, dass das ein speziell angefertigtes Glas ist? Afrika, na gut, seinetwegen gerne Afrika, doch vielleicht hatte sie Lust, mal die große Weltkarte zu sehen? Darauf würden sie Afrika finden, und in Afrika die weißen Strände, wo die Venus zur Welt gekommen sein konnte und später ihre Feste feierte. Wenn es einen gab, der Saras unentwegtes Erzählbedürfnis verstand, dann war es Icek Kac. Sensibel und unmerklich vermittelte er Sara immer mehr Wissenswertes, aus dem Sara die Geschichte von der Venus und gleichzeitig ihre eigene Zukunft webte. Bis heute weiß Sara nicht genau, sagte Dominika, wie viel Icek wirklich wusste, ob er die Geschichte der Hottentotten-Venus kannte, bevor sie ihn danach gefragt hatte. Von ihm erfuhr sie auch, dass das Wort Hottentotten abwertend ist, und sie lernte, dass der wahre Name des Stammes, aus dem Venus kam, Khoi-Khoi war. Hottentotten war Gestammel, so hatten die holländischen Kolonialherren die Khoi-Khoi genannt, weil sie deren Sprachen weder verstehen noch lernen konnten, sie kam ihnen barbarisch und hässlich vor.
    Sara zeigte Icek Kac das Bild von der Hottentotten-Venus, das mit der Zeit vom vielen Betrachten noch abgegriffener und zerknitterter geworden war, doch der Besitzer von American Values sagte nicht: Du Dummerchen, dieses Bild ist eine Karikatur, deine Venus war eine Sklavin und keine Schauspielerin, sie wurde wie ein Tier in einem Käfig ausgestellt. Nein, er sagte vielmehr: Sorge für sie, sie ist sehr schön, und er gab Sara eine kleine Schachtel mit Erdbeermuster, in der die Karikatur der Hottentotten-Venus bis heute ruht. Sara hat

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