Wolkenfern (German Edition)
um sich Politisierereien anzuhören. Politisiererei nannte Jadzia jede Meinungsäußerung, die nicht zu ihren eigenen Ansichten passte oder sie ganz konfus machte, so dass sie alles durcheinanderbrachte. Politisierereien weckten ihren Abscheu, und wenn sie gekonnt hätte, hätte sie sie ausdrücklich verboten. Sie zupfte ihren Angorapullover über der Brust zurecht, streifte ein paar Krümelchen ab, holte Luft, doch in dem Moment ordnete Kaplan Michał das Ende des Halts an, und es ging ohne Blutvergießen ab. Ihre gute Laune fand Jadzia jedoch nicht wieder; sie setzte sich allein hin, möglichst weit weg von den dreien, stellte auf dem zweiten Sitz ihre karierte Provianttasche ab, drehte sich zum Fenster und sprach bis Tschenstochau mit niemandem ein Wort.
Während der Messe in Jasna Góra ermahnte ein kleiner mausartiger Pauliner die Pilger, auf ihre Taschen und Portemonnaies aufzupassen – die Taschendiebe sind mitten unter uns; unsere Handtaschen halten wir hübsch vor der Brust, unsere Portemonnaies hübsch vorn im Ausschnitt, leierte er mit Singsangstimme, die Taschendiebe sind mitten unter uns. Jadzia fühlte sich von allem erschlagen, von all diesen Handtaschen und Portemonnaies zu Boden gedrückt, und als sie sich endlich bis zum Gitter vorgeschoben hatte und vor der Schwarzen Madonna niederkniete, konnte sie gar nicht mehr beten, ihr danken und ihr die lange Liste der Bitten vortragen, mit der sie gekommen war, ihr einziger Gedanke war, dass man sich bei dieser herrlichen Göttin entschuldigen müsste. Für den mit dem Schnauzbart, für die mit dem hartgekochten Ei, für die Handtaschen und die Portemonnaies, für die Taschendiebe, für den, der sie jetzt grob in den Rücken knuffte, damit sie sich beeilte; gegrüßet seist Du Maria, flüsterte sie, wie hältst Du das alles aus, wie traurig musst Du sein, wenn Du Dir das alles ansiehst, meine Göttin. So schön bist Du und so traurig, gegrüßet seist Du Maria, voll der Gnade, hängst hier in miefiger Luft, alles voller Bakterien, Du bist gebenedeit unter den Frauen. Jadzia Chmura hätte sich sehr gewundert, wenn jemand ihr gesagt hätte, dass sie Ketzerei betrieb, da es in der Kirche, zu der sie gehörte, keine Göttinnen gab und auch niemals geben würde. Was soll das heißen – gibt es nicht? Gibt es nicht?! Und was bitteschön war die Schwarze Madonna? Mit ihrem Schmuck, den als Votivgabe dargebrachten Perlen, und davor die hundert Weibsbilder im Gebet? Jeder Blinde würde sehen, sogar jeder Muslimist oder Hare Krishna, dass sie eine Göttin war! Jadzia hätte sich über eine solche Frage so ereifert, dass sie dem Frager womöglich mit der Handtasche eins übergezogen hätte, doch jetzt sprach sie ein Gebet und erweiterte die lange Reihe ihrer der Obhut der Schwarzen Madonna empfohlenen Toten noch um die jüdische Tante Eulalia Barron.
In der freien Zeit spazierte Jadzia allein in Richtung Stadt, aber sie verspürte keine besondere Lust, durch die Läden zu bummeln; am Fuße des Klosters sah sie einen Park und steuerte darauf zu, sie würde sich ein bisschen hinsetzen, verschnaufen und das letzte Stück Rhabarberkuchen essen. Am Weg stand ein Kreuz und eine bescheidene Muttergottesfigur mit Jesuskind, niemand blieb bei ihnen stehen, wen sollte dieser billige Plunder auch interessieren nach der ganzen Pracht der Schwarzen Madonna und der Schatzkammer von Jasna Góra. Die stets mitfühlende Jadzia zog es zu den kleinen, vernachlässigten Dingen, denen sie auf ihre Art Erbarmen zeigen konnte; sie ging hin, kniete nieder, gegrüßet seist Du Maria, hob sie an. Irgendetwas stimmte nicht. Die Muttergottes sah muttergottig aus, aber das Jesuskind? Irgendetwas stimmte mit dem Jesuskind nicht, und zwar ganz und gar nicht. Jadzia nahm ihre Brille ab, hauchte auf die Gläser, wischte sie sauber. Heilige Muttergottes, das war ja ein Mädchen! Die Muttergottes hielt ein hellhaariges Mädchen auf dem Arm, ansonsten war alles wie immer. Die Menschen gingen vorbei, niemand nahm Notiz von der Muttergottes mit dem Töchterchen. Auf der Rückreise unterhielten sich die Pilger über den Reichtum der Schatzkammer, zeigten einander die gekauften Andenken, Weihwasser in Plastikflaschen in Mariengestalt mit abdrehbarem Kopf, und Jadzia schwieg, seufzte und lächelte überlegen, denn sie hatte in Tschenstochau ein Wunder gesehen.
Nach dem Tschenstochau-Abenteuer war Jadzias Eifer, unter die Leute zu gehen, etwas abgekühlt, vor allem hatte sie keine Lust auf eine weitere
Weitere Kostenlose Bücher