Wolkenfern (German Edition)
und hat dieses Haus mit seinen großen dunklen Zimmern und knarrenden Parkettböden bezogen. Damals, in diesen Jahren kurz nach dem Krieg, war ihm etwas passiert, das ihm bis heute keine Ruhe lässt. Es hängt mit Grażynka zusammen. Vielleicht wissen Sie ja auch etwas davon, Frau Jadwiga? Vielleicht erinnern Sie sich an etwas? Mein Papa, fuhr Jeremiasz fort, hatte ein Fotoatelier in Grodno, und in Szczawno eröffnete er auch gleich eines, direkt nachdem wir umgesiedelt worden waren. Sie hatten reihenweise Fotografen in der Familie, nur er, Jeremiasz, war irgendwie aus der Art geschlagen. Ein Cousin seines Vaters soll vor dem Krieg irgendwo in Zentralpolen Fotograf gewesen sein und seinem Vater so ähnlich gesehen haben wie ein Zwilling, nicht wie ein Cousin, Ludek hatte er geheißen, Ludek Borowic. Nach der Repatriierung hatte Jeremiaszs Familie ihren Namen geändert, aber das war schon wieder eine andere Geschichte, obwohl Jeremiasz bis heute nicht verstehen kann, warum gerade Mucha und nicht wenigstens so ein adelig angehauchtes Muszyński; Jeremiasz Muszyński würde bei einem Bühnen- und Theaterkünstler doch viel besser klingen. Als Junge hatte Jeremiasz im Atelier geholfen, bis er sich über seinen Bühnentraum und noch ein paar andere Dinge mit seinem Vater überwarf. Einmal, es war vielleicht im Jahr neunundvierzig oder fünfzig, kam ein junger Mann ins Fotoatelier, eigentlich war er noch ein Junge, nicht von hier. So ein Zugereister mit Rucksack und abgewetztem, gewendetem Militärmantel, wie sie damals zu Tausenden unterwegs waren. Icek hieß er, Icek Kac oder so. Er fragte nach einer jungen Frau, Jeremiasz kann beschwören, dass sie Grażynka hieß; es gibt Dinge, die vergisst man nicht. Der Vater war gerade nicht da, und der Zugereiste bat Jeremiasz, ihm Fotos zu zeigen, nicht nur die im Schaufenster, vielleicht war ja ein Foto von ihr dabei. Er betrachtete sie alle, sogar die misslungenen in der Extraschachtel, und genau darunter war eines, das Jeremiasz ihm schließlich gab, ein überbelichtetes Bild aus dem Park in Szczawno Zdrój. Darauf waren zwei Gestalten vor einem Gewässer, die größere deutlich und die kleinere wie von einem Lichtstreifen mitten durchschnitten. Dieses überbelichtete Foto war es, das der junge Mann haben wollte. Frau Jadwiga, diese Frau wollte er so unbedingt wiederfinden! Das muss eine Liebe gewesen sein, Frau Jadwiga, eine Liebe wie die von meinem Konrad und Władek; ach, seufzte Jadzia, ach Herr Jeremiasz! Er wollte Grażynka etwas zurückgeben oder schenken, dieser Icek oder wie er hieß, Jeremiasz kann sich nicht genau erinnern, aber was den Namen der Frau betrifft, ist er sich sicher, ja, hundertprozentig, Grażynka, und er sieht immer noch die Augen des Mannes vor sich, denn niemals, vorher nicht und nachher nicht, hat er so traurige Augen gesehen, alte traurige Augen in einem jungen Gesicht; heilige Muttergottes, was für ein Leben, seufzte Jadzia. Dieser Icek Kac, Herr Jeremiasz, irgendetwas sagt mir das, aber ich weiß nicht, was, bestimmt werf ich wieder etwas durcheinander, Icek Kac, Icek Kac, heilige Muttergottes, wo habe ich das bloß gehört? Und Grażynka haben Sie nichts davon gesagt, dass dieser traurige Icek sie suchte? Nun ja, es hat sich irgendwie nicht ergeben. So oft hat er es sich vorgenommen und am Ende doch nichts gesagt oder es vergessen, oder irgendetwas ist dazwischengekommen, und manchmal denkt Jeremiasz sich, dass es nicht sein sollte, dass dieses Vergessen und Dazwischenkommen irgendeinen Sinn hatte, und dann ist Grażynka mit ihrem Deutschen weggegangen, und es war zu spät. Kürzlich hat er jetzt davon gehört, dass Grażynka verschwunden sei. Jawohl bestätigt Jadzia. Seit über zwei Jahren verschwunden, spurlos verschwunden. Und sie Dummerchen ohne Augen im Kopf hat keinerlei Anzeichen bemerkt, leider, obwohl sie Grażynka noch auf der Beerdigung der Schwiegermutter getroffen hat. So etwas sieht man einem Menschen wohl nicht direkt an, Frau Jadwiga, bitte geben Sie sich keine Schuld, sagte Jeremiasz Mucha tröstend; sie seufzten beide und saßen eine Weile schweigend da.
Was für ein seltsames Zusammentreffen, dachte Jadzia, jetzt sitze ich hier auf einer Bank im Kurpark mit einem Homodingsbums, und noch dazu waren wir zusammen Eisessen. Dominika wird platzen vor Lachen! Jadzia Chmura verspürte eine seltsame Genugtuung bei dem Gedanken, dass sie wieder etwas getan hatte. Ich werd’s euch noch zeigen, dachte Jadzia und hätte sich in
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