Wolkenfern (German Edition)
der immer in Bewegung war und beim Sprechen die Lippencreme mitaß, in die stachelbeergrünen Augen, und dabei überkam ihn eine solche Wehmut, dass er Jadzia am liebsten um den Hals gefallen, seinen Kopf an ihren üppigen Busen gelegt und geweint hätte. Jadzia wiederum fand in Jeremiasz einen idealen Zuhörer und entdeckte zum ersten Mal in ihrem Leben, dass sie erzählen konnte; sie fühlte, ohne zu verstehen, dass sie aus irgendeinem geheimnisvollen Grund auf den alten Schauspieler anziehend wirkte, dass er ihr tatsächlich zuhörte, sie manchmal sogar zu beneiden schien. Wenn sie Krysia Śledź etwas erzählte, konnte diese ihr immer ins Wort fallen, indem sie sagte, aber meine Iwona dies und jenes, mit der Lepka brauchte man gar nicht erst anzufangen, die interessierte sich nur für den im Jugoslawienkrieg vermissten Sohn Zbyszek, und selbst die verstorbene Schwiegermutter war zu Lebzeiten keine dankbare Zuhörerin gewesen, da sie sich schon nach dem zweiten Satz jeder Geschichte gestritten hatten. Der Geist ihres Mannes Stefan, von dessen Besuchen Jadzia niemandem erzählte, zog ähnlich wie zu Lebzeiten das Fernsehen der Unterhaltung mit seiner Frau vor und fragte plötzlich, ganz unvermittelt, was denn, Dziunia, hast du was gesagt? Heilige Muttergottes, ärgerte sich Jadzia dann, kannst du dich nicht wenigstens nach deinem Tod ein bisschen konzentrieren? Aber Jeremiasz Mucha hörte zu, und wenn Jadzia den Faden verlor, stellte er genau die Fragen, die sie brauchte, um ihn wiederzufinden, und wenn sie ihn hatte, rannte sie damit weiter wie ein Jagdhund. Manchmal geriet sie richtig außer Atem beim Erzählen, dann mussten sie beide eine Pause einlegen, um an ihrem Eis zu lecken oder wenigstens einen Schluck Heilwasser zu trinken. Jadzia hatte kein gutes Gedächtnis und brachte gelegentlich Ereignisse, Daten, Namen durcheinander, oje, ich glaub, da hab ich was verwechselt, Herr Jeremiasz, sagte sie und wurde ganz betreten vor Furcht, dieser freundliche Homodingsbums könnte gelangweilt davongehen und sie würde wieder allein zurückbleiben. Aber Frau Jadwiga, sagte er, davon kann gar keine Rede sein, wir waren bei Dominikas Ankunft in London stehengeblieben, ach, London, London, welch wunderschöne Stadt, die Themse, der Buckingham-Palast, Harrods. Ich war noch nie dort, Jadzia wurde wieder betrübt. Ich auch nicht, gab Jeremiasz Mucha zu, und Jadzias Lebensgeister kehrten zurück.
Und Dominika wohnt jetzt in diesem London, Herr Jeremiasz, bei einer Griechin, stellen Sie sich das vor. Sie hat mir Fotos geschickt, man kann nichts dagegen sagen, die Frau sieht nett aus, sauber, bestimmt steht sie mit beiden Beinen auf dem Boden. Ein bisschen füllig, aber im Gesicht ganz schmal, als gehörte es zu einem anderen Körper. Apostolea heißt sie, komisch, aber die Griechen geben sich eben so komische Namen, da kann man nichts machen. Wissen Sie was, diese Griechin sagt zu Dominika, du bist zu dünn, komm, alles frisch gekocht, hier, iss; und dann setzt sie ihr Portionen vor wie für einen Bauern vom Feld. Iss, iss, sagt sie nur, und wenn Dominika nicht weiter isst, dann hört Apostolea auf zu erzählen, aber weil Dominika ihr so gerne zuhört, hat sie schon fünf Kilo zugenommen von diesem griechischen Essen, und das ist ein Glück, Männer sind ja keine Hunde, kein Mann fliegt auf Knochen. Aber wissen Sie, was so seltsam ist – diese Apostolea hat auch nach sechzig Jahren noch Heimweh nach Zypern. So ein Meer, so ein Himmel!, sagt sie, und dieser Garten, in dem sie sich als Kind in einem Tonkrug versteckte, wenn sie Angst hatte, das ist für sie immer noch der schönste Garten, den es gibt. Ich hatte auch mal einen Garten, Herr Jeremiasz, was blühten da für Dahlien, fast schwarz und groß wie Kinderköpfe. Dominika hat erzählt, dass Apostolea achtundzwanzig Enkelkinder hat. Kein Mensch kann sich merken, wie viele davon Mädchen sind und wie viele Jungen, aber mal ganz allgemein, Herr Jeremiasz, können Sie sich so was ganz allgemein vorstellen? Glauben Sie, Herr Jeremiasz, dass der Mensch eine Art Vorrat an Liebe in sich hat und sie teilen muss, also ein Achtundzwanzigstel pro Enkelkind, und was ist, wenn es noch mehr werden, wird die Liebe dann mehr, immer mehr? Jetzt habe ich vor lauter Denken eine ganz trockene Kehle bekommen, Herr Jeremiasz; dann gestatten Sie vielleicht, Frau Jadwiga, dass ich eine Waffel mit Erdbeersauce und einen kleinen Schwarzen im Kurcafé vorschlage?
Die regelmäßigen Treffen in
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