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Wolkenfern (German Edition)

Wolkenfern (German Edition)

Titel: Wolkenfern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanna Bator
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normal, aber – o Wunder – sehr gut. Jeder glaubte, dass die von ihnen hergestellten Liköre, Mixturen und Tinkturen gegen etliche Leiden wirksam waren, und oft ging man nicht erst zum Arzt, sondern zu den Bewohnerinnen der Napoleonhütte, um sich Rat zu holen, was am besten gegen Sodbrennen, hartnäckige Skrofeln und Ohrensausen zu machen sei.
    Róża und Aniela Rozpuch hatten die Fähigkeit, nicht aufzufallen, ihre Existenz bemerkte man überhaupt erst, als sie sich von der Familie des Fabrikanten Mopsiński trennten und in die Napoleonhütte übersiedelten. So, aus jedem Familienzusammenhang gelöst, strahlten sie irgendwie etwas Irritierendes und Unpassendes aus, aber was machte das schon, sagten sich die Bürger von Kamieńsk. Ältere Damen, die bei Angehörigen Kost und Logis bekamen, kannte man hier, in jedem Herrenhaus saß eine Tante Bekannte, eine Cousine ohne Mitgift, eine leicht lädierte Großtante väterlicher- oder mütterlicherseits, aber zwei unverheiratete Frauen, die zusammen in einem Haus für sich lebten? Vielleicht gab es das in der Stadt, in Piotrków oder Radomsko, aber nicht in Kamieńsk, höchstens wenn beide alt und eindeutig miteinander verwandt waren. Damals gab man ihnen den Namen Die Teetanten, und dieser gemeinsame Name gefiel allen Beteiligten, das unausgesprochen Geargwöhnte wurde bei keinem Namen genannt, zumal es für solche Dinge in Kamieńsk gar keinen Namen gab. Die Teetanten schienen mit dem neuen Zunamen zufrieden zu sein, und ganz entschieden zufrieden waren sie mit dem eigenen Haus, sie hängten frische Gardinen und Vorhänge an die Fenster der Napoleonhütte, weißten die Wände und jäteten den Garten – alles vierhändig. An warmen Tagen saßen sie auf der Bank und enthülsten Erbsen oder schälten Äpfel, was manche Betrachter ärgerte: Nicht genug damit, dass sie so doppelt und unverheiratet waren, man wusste noch nicht mal, ob sie Herrschaft oder Bauern waren. Wenn man hinguckte, konnte man meinen, jede der beiden sei doppelt: Mal sind sie herausgeputzt wie vom Herrenhaus, und dann wieder sitzen sie da in Bauernkleidern mit Kopftüchern auf dem Kopf und enthülsen Erbsen. Manchmal saßen die Teetanten auch einfach tatenlos da und schauten auf die Straße, als erwarteten sie jemanden, eine neben der anderen, im dichter werdenden Dämmer einander zum Verwechseln ähnlich und reglos. Und sie warteten nicht umsonst.
    In der Napoleonhütte kam Grażynka zur Welt, oder vielmehr: sie wurde dort im Morgendämmer eines Märztages zur Welt gebracht, als die erste Woge grauen Lichts von Kleszczowa her die Grenze von Kamieńsk erreichte. Mindestens drei Personen brachten sie zur Welt, die unbekannte Mutter nicht mitgerechnet, die sie im Bauch getragen hatte, und niemand weiß, warum die Welt in diesem Fall ausgerechnet Kamieńsk war, das sich unter den umliegenden Dörfern nur durch den Kamieńsker Berg unterscheidet, eine merkwürdige Erhebung, die in der flachen Landschaft Mittelpolens so aussieht wie ein großer Krümel unter einer glattgebügelten Tischdecke. Dieses mikroskopisch kleine Städtchen, das man ohne weiteres für ein Dorf halten könnte, lag wie ein Hühnerdreck auf der Schnittstelle der Straßen zu viel bedeutenderen Orten: Durch Kamieńsk führte die Straße von Katowice nach Danzig und von Warschau bis gar nach Wien, was von Kamieńsk aus betrachtet so weit weg war, dass es schon nicht mehr wahr sein konnte, obwohl die hiesige Musiklehrerin Aurelia Borowiecka ihre Schüler gern mit Wiener Walzern quälte – eins zwei drei im Takt, eins zwei drei …
    Das Gesicht der ersten Person, die Grażynka auf die Welt brachte, hat niemand gesehen. Der an Schlaflosigkeit leidende Fotograf Ludwik Borowic und Marianna Gwóźdź, die vom Dienstmädchen des Fabrikanten inzwischen zur Haushälterin des Pfarrers Venantius Pielasa aufgestiegen war, behaupteten zwar, eine Gestalt, die in Kamieńsk fremd war, beobachtet zu haben, doch was Geschlecht, Alter und Aussehen dieser Gestalt angingen, unterschieden sich ihre Meinungen voneinander. Ludek war sicher, dass er eine große, rothaarige Frau gesehen hatte, die in Richtung Fluss rannte wie auf der Flucht, die Haushälterin hingegen behauptete steif und fest, einen Scheiß habe er da gesehen, guckt euch den an, ein Fotograf, der blind ist wie ein Maulwurf, das war doch ein Bursche, klein, aber gut im Futter, mit einem Zigeunerhut auf dem Kopf, und er ist auch nicht gerannt, sondern hat sich geschlichen wie ein Fuchs, und

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