Wolkenfern (German Edition)
für Stück machte man sich an den Besitz heran, der zurückgeblieben war, denn es schien auf der Hand zu liegen, dass weder der Kamieńsker Fabrikant noch überhaupt ein Fabrikant zurückkommen würde, und wenn die Juden nicht zurückkommen würden, dann würde das, was ihnen als Besitz entfallen war, demjenigen zufallen, der als Erster die Pfote danach ausstreckte, denn so ist das Leben. Es war allerdings nicht mehr viel zu holen, und niemand weiß mehr so recht, wer als Erster seufzte: Ach, wenn man so einen Napolenonsnachttopf hätte, wenn man diesen ganz aus Gold gemachten und mit Edelsteinen besetzten Nachttopf haben könnte! Ach, mein Herr, ach, meine Dame, plötzlich hatte jeder in Kamieńsk schon von dem Nachttopf Napoleons gehört, der im Herrenhaus mehr als ein Jahrhundert überdauert hatte. Wie angenehm war es, sich inmitten von Chaos, Hunger, Elend und Tod in Gedanken an einem solchen Prachtstückchen festzuhalten, an einem solchen Nachttopf, über und über mit Paradiesvögeln bemalt und mit Drachen und werweißwas, den könnte man verkaufen, für Schmuck- und Trauringe einschmelzen, gegen alle möglichen Dinge eintauschen oder einfach nur besitzen, ihn verschwenderisch einfach behalten und in Besitz haben. Marianna Gwóźdź hatte den Glanz in Grażynkas Rucksack schnell mit dem verlorenen Nachttopf in Verbindung gebracht, sie hatten diesen vom Fabrikanten verborgenen Schatz gefunden und noch am selben Tag, am Tag ihres Verschwindens, irgendwohin mitgenommen, davon versuchte sie alle in Kamieńsk zu überzeugen. Aber konnte der Nachttopf nicht auf eigene Faust zurückgekommen sein? Aber natürlich! Marianna Gwóźdź war sich dessen sicher, und es gelang ihr auch, viele dazu zu bringen, es ebenfalls zu glauben. Im Krieg geschahen merkwürdigere Dinge als die selbständige Rückkehr eines Nachttopfs. Nach einiger Zeit suchten alle in Kamieńsk den Nachttopf, und jeder hatte irgendeine Theorie darüber, an welchem Ort er versteckt sein mochte und wie er aussah, mit jedem Tag wurde er schöner und kostbarer. Aus massivem Gold, mit eingravierter Aufschrift und Wappen, in einer Kiste verborgen, die im Garten des Herrenhauses unter einem Apfelbaum vergraben war. Aber unter welchem? Unter dem, der so glatte und glänzende Frühäpfel trägt, die aussehen wie vergoldet. So ein Pech, dass die Klarapfelbäume schon seit zwei Jahren keine Früchte mehr tragen und man sie daher nicht unter den anderen erkennen kann. Ach was, von wegen golden, bemalt war der Nachttopf, mit Husaren zu Pferde bemalt, und aus chinesischem Porzellan, so dünn wie Papier, das ist wertvoller als Gold, ja Gold ist im Vergleich dazu wertlos; und eingemauert ist er in einer Wand des Herrenhauses. Das Gerücht verbreitete sich, sprudelte wie eine Brausetablette mit Erdbeergeschmack, wie sie der neue Apotheker in der Geraden Straße herstellte und als die hervorragendste Arznei gegen Melancholie, Kater und Trübsal verkaufte. Dieser Nachttopf, das war ein Vermögen! Man konnte ihn einschmelzen, um Schmuck daraus zu machen, oder besser noch behalten, so wie er war, als Kapitalanlage, denn Papiergeld, das war heute da und morgen verschwunden, aber Gold, das war und blieb Gold, von chinesischem mal ganz zu schweigen! So oder so, die verschiedenen Stränge der Geschichte vom Nachttopf liefen alle bei den Teetanten und Grażynka zusammen. Deshalb behielt man durchs Fenster die Napoleonhütte im Auge und trug nach und nach davon, was sich ohne Einbruch wegtragen ließ, denn die Teetanten gehörten ja schließlich alle beide zu ihnen, wenn auch nicht so ganz, deshalb wartete man noch ein bisschen mit dem Einschlagen der Fensterscheiben und dem Aufstemmen der Schlösser. Was verschwand, das waren nur der Rechen, der an der Schuppentür lehnte, eine Holzschaufel für den Brotbackofen, Tulpenzwiebeln und ein üppig verzweigter Hortensienbusch aus einer feuchten Ecke des Gartens. Erst ein, zwei Tage vor der Rückkehr der Teetanten hatte es einer nicht mehr aushalten können, war in die Speisekammer eingebrochen und hatte die metallene Lebensmittelwaage mit einem kompletten Satz Gewichten und das Fass mit dem doppelten Boden mitgehen lassen, das aber nichts enthielt als den fauligen Geruch von altem Sauerkraut.
Die Teetanten und Grażynka kamen an einem Samstagabend im Spätherbst zurück, ganz unbemerkt, und erst am Licht in den Fenstern der Napoleonhütte sahen die Nachbarn, dass wieder Leben in das Haus eingekehrt war. Sie warteten geduldig darauf,
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