Wolkenfern (German Edition)
entschieden wanden sie ihre Hände aus Grażynkas Griff, lösten behutsam ihre störrischen Finger, traten einen Schritt nach vorn und nahmen einander bei den Händen, ohne Grażynka zwischen sich. Das Kind, das die Teetanten jetzt verdeckten, hob den Blick, es sah das fremde Gesicht, so eng von der Haube umschlossen, dass sich auf der Wange eine tiefe Kerbe gebildet hatte, und die trockene heiße Hand der Nonne nahm die des Kindes fest in den Griff. Nach der Selektion von rund zwanzig Leuten, die an die Wand des Radomsker Bahnhofs gepresst standen, wurden nur die Nonne mit Grażynka und eine dürre ärmliche Frau aus dem Bahnhof gelassen; der Dürren war bisher sicher nur wenig Gutes zugestoßen, denn während sie fortging, sah sie sich immer wieder um, als könne sie nicht glauben, dass man ihr das Leben geschenkt hatte. Die Teetanten sahen, wie Grażynka, vom Arm der Schwester Bernadette gezogen, hinter dem Tor des Bahnhofs verschwand, Schwester Bernadette, wiederholten sie in Gedanken, Anbeterin, Christi Blut, Tschenstochau. Diese Worte wurden zu einer Beschwörungsformel, die sie im Lager vor sich hin flüsterten, wenn sie die Hoffnung verloren; Schwester Bernadette, Anbeterin, begann Róża leise; Christi Blut, Tschenstochau, schloss Aniela, und dann hatten sie wieder den Willen zu überleben.
Als man die Teetanten zum letzten Mal in Kamieńsk gesehen hatte, waren sie im Morgengrauen zum Bahnhof gegangen, beladen mit Körben und Päckchen, Grażynka in der Mitte. Marianna Gwóźdź erzählte sofort danach in der Bäckerei, die Kleine habe einen Lederrucksack auf dem Rücken getragen, der habe geleuchtet, als stecke die Sonne darin, aber man wusste, dass die Haushälterin des Pfarrers eine lebhafte Phantasie hatte, und anfangs schenkte niemand ihrer Erzählung Beachtung. Erst als sich herausstellte, dass die Teetanten und Grażynka von diesem Ausflug zum Markt nicht zurückkamen, erinnerte man sich der Erzählung der Marianna Gwóźdź, und die Leute begannen nachzufragen, wie es denn in Grażynkas Rucksack geleuchtet habe, golden oder silbern? Wie die Sonne oder wie der Mond? Grünlich wie ein Johanniskäferchen oder eher bläulich wie ein Irrlicht im Moor? Und waren die Teetanten traurig? Waren sie vielleicht ein bisschen anders als sonst, durch die Aussicht auf ihr Verschwinden verändert? Konnte man ihnen irgendetwas ansehen? Dass sich die Spur der Teetanten und Grażynkas an diesem Tag in Radomsko verlor, wunderte niemanden, denn in jener Zeit war es eher eine Seltenheit, wenn jemand Spuren hinterließ, und es kam vor, dass sich Menschen beim Gehen durch den Schnee alle paar Schritte bekreuzigten, weil ihre Fußabdrücke im Schnee verschwanden, als hätten sie nie ihren Fuß in das weiche Weiß gesetzt. Die Teetanten waren nicht die Einzigen, die verschwanden, zuerst hatte dieses Schicksal die Juden von Kamieńsk ereilt, dann verlor sich jede Spur des Friseurs Kruk sowie des Konditors Suliga und seiner Frau Beata, Franciszka Pylek von der Post verschwand zusammen mit ihrer Familie und ihren Brüdern, und noch so viele mehr. Doch das Ungewöhnliche der Teetanten gab Anlass zu der Hoffnung, dass auch ihr Verschwinden ungewöhnlich war und man dadurch etwas über das Wesen des Verschwindens lernen könnte, so dass diejenigen, die noch in Kamieńsk waren, vor einem bösen Schicksal bewahrt bleiben konnten. Man wartete also darauf, dass sie zurückkehren und sagen würden: Ach, so schlimm war es gar nicht, wir haben es jetzt hinter uns, man brauchte vor gar nichts Angst zu haben. Sie würden eben verschwunden gewesen sein und kamen dann zurück und würden bald wieder zum Tee einladen.
Der Krieg ging langsam dem Ende zu, und die Leute in Kamieńsk wurden allmählich ungeduldig, denn der Friseur Tadeusz Kruk war zurückgekehrt, und von anderen war wenigstens die Kunde gekommen, mehr oder weniger präzise – vom Tod bei einer Razzia oder von einem Fluchtversuch aus dem Zug, davon, dass man diesen oder jene in Piotrków oder Radomsko gesehen hatte, ganz bestimmt war er, mit absoluter Sicherheit war sie es gewesen, wenn auch etwas verändert, mit einer Narbe, ohne Bein, ohne Arm, mit einem Gesicht, das irgendwie anders wirkte, wie von Krankheit gezeichnet. Doch von den Teetanten oder Grażynka wusste niemand etwas. Bestimmt kommen sie nicht zurück, seufzte Marianna Gwóźdź ein ums andere Mal, bestimmt kommen sie nicht zurück, lief es als Echo durch die leeren jüdischen Häuser an der Geraden Straße. Stück
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