Wolkenfern (German Edition)
doch sie wisse nicht, was. Weder die Tinkturen noch die Kräutermixturen zur Kräftigung, für die die Teetanten in der ganzen Gegend bekannt waren, zeitigten irgendwelche Erfolge. Plötzlich verfiel Grażynka in eine solche Apathie, als sei in ihrem Innern eine Tür zugefallen, die sie von Licht und Luft trennte. Reglos lag sie da, mit offenen Augen, die sich bewegten, als folge ihr Blick etwas, das nur sie sehen konnte. Ihre Körpertemperatur sank auf fünfunddreißig Grad, ihre Haare sprühten Funken, ihre Hände waren kreideweiß, und unter ihren Fingernägeln wurden kleine leuchtende blaue Pünktchen sichtbar.
Eines Nachts wachten die beiden Teetanten gleichzeitig so erschrocken auf, als hätte ihnen jemand ins Ohr gebrüllt. Sofort wussten sie: Grażynka war nicht im Haus. Sie liefen hinaus in den Garten, es sah aus, als habe sich der graue Kuss des Todes über alles Grün und alles Leben gebreitet, kein Hund bellte, kein Vogel trillerte, keine einzige Dorfkatze gab einen Laut von sich. Die Teetanten schauten sich in der grauen Stille um und sahen, dass das Tor am Ende des Pfads zum Fluss Kamionka nur angelehnt war. Wenn sie bloß nicht ins Wasser gegangen war! Sie rannten durch die verdorrten Kletten und den wilden Dill, der Atem stand ihnen in Dampfwolken vor dem Mund. Auf der Böschung hielten sie inne, der Fluss zu ihren Füßen strömte quecksilbergrau dahin, das Spiegelbild des Mondes löste sich auf der Wasseroberfläche auf. Da stand Grażynka. Mit dem Rücken zum Ufer stand sie weiß und nackt auf einem Baumstumpf, der aus dem Wasser ragte, und sang. Was für ein Gesang! Die Worte der Lieder kannte jeder – Vor meinem Fenster stand die Zigeunerin, jüdische Gesänge aus der Synagoge, Fräulein Mania und Trauerweiden –, doch aus Grażynkas Mund hörten sie sich so anders an, als wären sie nicht von dieser Welt. Grażynka sang und bewegte die Arme, als wollte sie schwimmen oder sich in die Lüfte erheben, während im Osten ein erster rosa Streifen am Himmel erschien. Heilige Muttergottes, erschraken die Teetanten, wenn bloß keiner sah, dass ihr Findling hier nachts splitternackt stand und sang, das würde einen Skandal gaben! Sie rutschten die Uferböschung hinunter, stiegen bis zu den Knien ins Wasser, fassten Grażynka unter beide Arme und führten sie nach Hause. Als im Stall vom alten Słowik zweimal hintereinander ein zweiköpfiges Kalb zur Welt gekommen war, hatte ihm jemand die Scheune in Brand gesteckt. Im Krieg reizte man die Leute besser nicht mit solchen Wunderlichkeiten, sie waren schon nervös genug. Die Teetanten wussten, jetzt galt es zu handeln.
In Radomsko gab es einen Apotheker namens Maurycy Mak, er verstand sich auf die Heilkunst besser als die Ärzte, deren Rezepte er nach seinen Vorstellungen und zum Vorteil der Patienten abwandelte, und stellte in seiner freien Zeit Liebestrunke, Salben gegen Ausschlag, Tinkturen für besseren Haarwuchs und für größere Brüste und auch Gegengifte her. Berek Mintz war der Einzige gewesen, der mit ihm konkurrieren konnte, doch Berek Mintz war mit seiner ganzen Familie nach Treblinka deportiert worden, so dass Maurycy Mak seither eine Monopolstellung in der Apothekerbranche inne hatte und die Preise für seine Dienstleistungen entsprechend in die Höhe schraubte. Tja, billig ist er nicht, der Maurycy Mak, seufzten die Teetanten beim Gedanken an den Radomsker Apotheker. Grażynkas Krankheit würde sicher auch nicht zu den Zipperlein gehören, für die ein paar normale Kräutchen oder billige Entschlackungstabletten reichten, deshalb rechneten sie sich aus, was sie für wie viel auf dem Markt in Radomsko verkaufen konnten. Aber es war hoffnungslos – es war immer zu wenig. Sie sahen sich an, seufzten, nickten in stillem Einvernehmen, denn sie brauchten nie viele Worte, um einander zu verstehen. Napoleons Nachttopf, was sollten sie machen, etwas anderes hatten sie nicht, um es dem Apotheker für die Heilung Grażynkas anzubieten. Vielleicht würde er ihn als Pfand annehmen, wenn sie ihn darum baten, und später, wenn sie wieder Geld hatten, würden sie ihn zurückkaufen können? So oder so, die Lage war ernst, und sie mussten los. Als die Entscheidung gefallen war, den Nachttopf Napoleons gegen eine Mixtur zu tauschen, die Grażynka vom nächtlichen Singen am Fluss heilen würde, beschlossen die Teetanten, die praktische und tatkräftige Frauen waren, bei der Gelegenheit auch noch ein paar andere Dinge auf dem Markt in Radomsko zu
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