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Wolkenfern (German Edition)

Wolkenfern (German Edition)

Titel: Wolkenfern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanna Bator
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beiden das Laufen etwas ganz Alltägliches war, war die andere seit Jahren nicht mehr gerannt, weshalb die Geschwindigkeit, zu der sie beim Sprint an der Wrocławer Straße entlang auflief, um so beachtlicher erschien. Małgosia Lipka hatte sich am Tag zuvor von Dominika verabschiedet. Es war ein schöner Abschied, denn nach den Ferien würden sie sich ja in Warschau treffen und in der Chomiczówka einziehen, wo der Block dem Babel von Piaskowa Góra zwar zum Heulen ähnlich sah, aber trotzdem irgendwie ganz anders schien, fast schön, umwuchert von Grün, von Jasmin und Holunder. Am Abend von Dominikas Abreise saß Małgosia am offenen Fenster ihres Zimmers und horchte auf ihre streitenden Eltern. Die warme Luft zitterte; Małgosia sah die Lichter von Piaskowa Góra und fühlte, dass sie schon gar nicht mehr an diesen Ort hier gehörte, dass sie schon so gut wie abgereist war, und keiner sollte sich einbilden, dass sie jemals wiederkommen würde. Sie sprang von der Fensterbank auf das Schuppendach und von dort in das vom Abendtau feuchte Gras, sie rannte Richtung Piaskowa Góra, vielleicht würde sie es zur Bushaltestelle schaffen, oder sonst zum Bahnhof, egal, was sie Dominika sagen würde, laufen musste sie, denn irgendwo gab es doch noch diese reinen Flüsse und Quellen, aus denen das Licht entsprang. Sie und Dominika waren in Wrocław auf dem Konzert eines Sängers aus Krakau gewesen, in der Turnhalle einer Schule hatte es stattgefunden, das Publikum war laut, ein Kind lärmte, und hinterher waren sie zur Bühne gegangen, um dem Sänger mit dem aufgedunsenen Gesicht und den blassen verschwiemelten Augen etwas Nettes zu sagen, doch er guckte wie in eine leere Flasche und begriff nichts. Er roch nach Alkohol, und Dominika fiel ihr Vater ein, der manchmal bei ihrem Anblick einen ähnlich traurigen Ausdruck bekam und bei der Frage, wie es in der Schule lief, in solche Ferne rückte, als habe sich in seinem Nest auf dem Sofa ein schwarzes Loch aufgetan. Danach sangen sie und Dominika höhnisch von den reinen Flüssen und Quellen, aus denen das Licht entspringt, denn sie waren ironisch und mieden jede Begeisterung wie die Pest, ah, die herrliche Begeisterung!, sagten sie und verdrehten die Augen, doch als Małgosia jetzt barfuß durch Szczawienko und Piaskowa Góra lief, dachte sie an reine Flüsse und Quellen, aus denen das Licht entspringt, an ihr Wolkenfern, das sie und Dominika sich bei ihren Eskapaden auf dem Dach vom Babel ausgemalt hatten, und sie dachte daran, wie sie am Fenster des Nachtzugs nach Warschau lauthals gesungen hatten und wie ihr der Fahrtwind Dominikas Haare ins Gesicht geweht hatte.
    Im Pfarrhaus saß unterdessen Pastor Postronek und verabreichte sich Baldriantropfen, weil ihn der Streit mit Adaś, der um ein Haar mit Dominika durchgebrannt wäre, vollkommen aufgewühlt hatte. In Adams Zimmer, das er jetzt schon zum zweiten Mal innerhalb einer Viertelstunde betrat, herrschte eine Riesenunordnung, und erst jetzt bemerkte der alter Pastor den Brief, der an die Muttergottesfigur mit dem schief angeklebten Kopf gelehnt war. Über geschlagene vier Seiten verbreitete sich Adaś in seiner schrägen Mädchenschrift darüber, dass er Spuren hinterlassen, Kinder und Familie haben wollte. Pastor Postronek hörte solche Dinge nicht zum ersten Mal, und immer noch weckten sie die seit Jahren schlummernde Sehnsucht seines Herzens, denn auch er hatte einst gewollt und gefürchtet, auch wenn sein Ich wesentlich weniger überbordend gewesen war. Bei der Lektüre dieses Abschiedsbriefs hatte Pastor Postronek das Gefühl, dass er bei der ganzen Geschichte etwas Wichtiges vergessen hatte, was auch dieser Brief voll hochtrabender Worte und Zitate nicht erwähnte – was war es bloß? Der alte Pastor legte die Stirn an die Fensterscheibe und ging in Gedanken noch einmal alles durch, ob sie auch wirklich alles getan hatten, was nötig war, und gerettet hatten, wen es zu retten gab. Die kleine Chmura, so eine ganz Dünne, eine Halbwaise, angeblich in Mathematik unglaublich begabt, aus einer frommen Familie. Ach Gottohgott, seufzte Pastor Postronek und machte sich schleunigst auf den Weg durchs Gebüsch nach Piaskowa Góra hinauf, um der ebenfalls in Mitleidenschaft gezogenen Familie Chmura seinen christlichen Trost zu spenden. Er rannte mit geschürzter Soutane, sprang über Abfall und schlafende Säufer, leichtfüßig war er und flink. Im nächsten Augenblick stürzte Pfarrer Postronek hinaus auf die Wrocławer

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