Wolkenfern (German Edition)
ausmachen würde. Icek Kac sah Grażynka an und versuchte sich den Anblick einzuprägen: die goldene Haut, die Sommersprossen auf der Nase, das graue Kleid, aber ihm drehte sich alles im Kopf, und das Bild vor seinen Augen verschwamm wie hinter einer Glasscheibe, über die Regen rinnt. Wein nicht, sagte Grażynka, ich werde dich nie vergessen, ich werde dich immer lieben, und das waren genau die Worte, die er hatte hören wollen. Ich werde dich finden!, wollte er Grażynka versprechen, aber solche Versprechen waren unnötig, denn der Kamieńsker Waisenjunge Icek Kac hatte Geschick darin, das zu verlieren, was er liebte, und aus irgendeinem Grund wusste er, dass er Grażynka trotz unermüdlicher Suche nie wiedersehen würde.
Vielleicht war es ihm deshalb gelungen zu überleben, und als der Krieg zu Ende war, fuhr er nach Kamieńsk, doch die Napoleonhütte stand leer, man erzählte ihm, die Teetanten seien kurz nach ihrer Rückkehr ertrunken, obwohl einige in Kureks Bar behaupteten, sie seien nicht ertrunken, sondern hätten sich in Sirenen verwandelt und trieben auf der Kamionka dem Meere zu. Grażynka war ein paar Tage später als die Teetanten verschwunden und nie zurückgekehrt, woran kein Zweifel bestand, die einen sagten, sie sei nach Piotrków Trybunalski gefahren oder nach Warschau, andere sagten von wegen Piotrków, von wegen Warschau – nach Amerika war sie geflogen, und zwar genau nach New York mit so einem Kerl aus Radomsko, der Kriegsgewinnler war. Daraufhin explodierte Marianna Gwóźdź, die Haushälterin des Pfarrers: mit was für einem Kerl aus Radomsko, von wegen Radomsko, mit dem Tadeusz Kruk war sie durchgebrannt, der Kruk hatte sich doch genau um diese Zeit in Luft aufgelöst, aber an diese letztere Hypothese konnte Icek nicht glauben. Er fuhr nach Warschau und Piotrków, nach Danzig und Białystok, nach Breslau und Stettin und Wałbrzych, er suchte sich die großen Städte aus, weil Grażynka ihm im Waisenhaus erzählt hatte, sie wolle in einer Großstadt leben, und da er schon unterwegs war, stieg er auch in Kleinstädten aus, er war in Koluszki, Legnica, Skierniewice, Grudziądź und Szczawno Zdrój, denn man man landet ja nicht immer da, wo man hin will. Icek Kac suchte Grażynka an allen Orten, die ihm sein armes Herz eingab. Er veräußerte auch Napoleons Nachttopf nicht, machte ihn weder zu Geld, noch tauschte er ihn gegen etwas ein, denn so wurde er zu einem Requisit, das es Icek erlaubte, sein Sehnen in eine für andere Leute plausible Erzählung umzusetzen. Ich suche eine Frau, sagte er, sie hat mir das Leben gerettet, ich muss ihr danken und ihr ein wertvolles Familienerbstück zurückgeben, Napoleons Nachttopf, den ich für sie aufbewahrt habe.
Seine Suche begann Icek Kac an jedem Ort damit, dass er sich die ausgestellten Fotos in den Schaukästen der Fotoateliers ansah, denn er wusste noch sehr gut, wie gern Grażynka sich fotografieren ließ, und manchmal meinte er sogar, sie zu erkennen. Grażynka war die elegante Dame auf einem Ausweisfoto in einem Atelier, das in einem Meer von Ruinen im Warschauer Stadtteil Wola überlebt hatte, in Koluszki war sie die strahlende junge Mutter mit Hochfrisur und einem Säugling im Arm; macht nichts, dass sie ein Kind hat, dachte Icek. In Białystok war Grażynka eine Amazone mit Reitgerte auf einem braunen Pferd; na so was, da hat sie sogar reiten gelernt!, seufzte er bewundernd. Auf einem Hochzeitsfoto in Piotrków Trybunalski war Grażynka die Trauzeugin, sie trug einen eleganten blumengeschmückten Hut und ein ausgeschnittenes Kleid wie ein Stück Sahnekuchen; sie war eine von sechs Frauen auf einem Picknick, und Icek hätte schwören können, dass die Frucht, die sie in der Hand hielt und gerade essen wollte, eine Erdbeere war. Auf dem Foto von einer Feier in Skierniewice und dem von einer Tanzveranstaltung in Legnica war Grażynka tanzend abgebildet, in einem gepunkteten Kleid und mit Sonnenbrille lächelte sie übers halbe Gesicht, denn die andere Hälfte war im Dunkeln; sie konnte auch diese kleinere, von einem Lichtstreifen durchschnittene Gestalt vor einem Teich sein, auf einem unscharfen Foto, das er von einem ganz jungen Fotografen in Szczawno Zdrój bekam. Und sie war es, ja ganz bestimmt war sie das, die auf einem Foto in Wałbrzych den Arm um eine ältere Dame mit Eidechsengesicht gelegt hatte – doch nirgendwo konnte auch nur einer Icek auf die richtige Fährte bringen. Nach einiger Zeit bemerkte Icek, dass das Bild des
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