Wolkenfern (German Edition)
ausgestellten Fotografien von Hochzeiten, Taufen und Bar Mitzwas betrachtet, die Porträts, die als Geschenk der oder dem Liebsten zugedacht waren, an die Verlobte oder den Verlobten im Ausland geschickt werden sollten, die gewöhnlichen Ausweisfotos. Icek wusste nicht, warum ihn beim Betrachten der ausgestellten Fotografien von Ludek Borowic eine solche Traurigkeit überkam, dass er die Tränen nicht zurückhalten konnte, als dringe aus den Abbildungen der Bewohner von Kamieńsk, Kocierzowa und Gorzkowice eine schreckliche Ahnung, die er nicht in Worte fassen konnte oder für die es keine Worte gab. Den kleinen Icek Kac erschreckte die Reglosigkeit der Aufnahmen, die sozusagen das Leben der Fotografierten festhalten wollten, doch der einzige Weg dazu ist die Erstarrung, also der Tod. Das dachte er damals. Er stand dort und betrachtete die Reglosigkeit und die Unveränderlichkeit der ernsten Gesichter mit ihrem gezwungenen Lächeln, die rotgetönten Lippen der Frauen, die auf den Sessellehnen ruhenden Hände der Männer, die verzierten Köpfe der Spazierstöcke, die Kinder in weißen Steckkissen, in allzu ernster Feiertagskleidung, mit Augen, die wie Glasmurmeln glänzten, und es kam ihm undenkbar vor, dass nach einer solchen Erstarrung wieder Leben einkehren würde, dass die zum Lächeln leicht geöffneten Lippen wieder aufeinandertreffen, die aus der Stirn gestreifte Locke wieder zurückgleiten, die Hände auf die Knie schlagen würden, na endlich Schluss mit diesem Posieren! Dass die in einer Kristallvase verewigten Blumen verwelken und die Teetanten mit ihrer Grażynka, dem schönsten Mädchen im Städtchen Kamieńsk, von der Schaukel steigen würden, danke schön, Herr Ludek, für das Foto, würden sie sagen, auf Wiedersehen. Icek Kac erinnert sich noch genau an die Reihenfolge der Fotografien, die er in jenem letzten Herbst in Kamieńsk im Schaukasten betrachtete. Links stand das Foto von Marek Słowik mit seiner im landwirtschaftlichen Wettbewerb preisgekrönten Kuh, dann kam das Hochzeitsfoto von Mateusz Suliga und seiner Frau Beata, geborene Kopeć, gleich daneben Fabrikant Antoni Mopsiński mit seiner abwesend blickenden Gattin Josephine und dem Sohn Napcio im Matrosenanzug, dann die Musiklehrerin Aurelia Borowiecka im Kreise von einem guten Dutzend polnischer und jüdischer Schüler, der Bahnwärter Barnaba Midziak auf einem schmucklosen Ausweisfoto, Franciszka Pyłek ebenso, und dann die Teetanten mit Grażynka auf der Bankschaukel, daneben Grażynka allein, das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte, aber das hatte er ja schon gesagt, einmal hatte er sich sogar ihretwegen mit Napcio Mopsiński geprügelt, also Grażynka in einem Kleid so weiß und luftig wie Baiser, und schließlich die ganze Familie Kac außer ihm selbst, Icek Kac, dem drittältesten Sohn, denn er hatte sich absichtlich verdrückt an diesem Tag, als seine Familie das erste und letzte Bild im Atelier von Ludek Borowic machen ließ. Als er die Fotografie seiner Familie betrachtet hatte, war dieses Gefühl einer großen Einsamkeit, das er stets empfand, noch stärker geworden, denn er hatte den konkreten Beweis vor Augen, dass sie alle dort waren und er hier. Als mittleres Kind hatte es Icek zwar leichter, der elterlichen Aufmerksamkeit zu entschlüpfen, und er konnte sich öfter als die älteren Brüder einer Strafe entziehen, doch entgingen ihm auch öfter die Belohnungen, mit deren Zuteilung die Eltern bei der jüngsten Tochter oder dem ältesten Sohn anfingen. Als Icek Kac damals vor der Vitrine von Ludek Borowic’ Fotoatelier stand und seine Angehörigen betrachtete, hatte er das seltsame Gefühl, dass ihr regloses Abbild wahrhaftiger war als die Wirklichkeit. Iceks Vater, ein wortkarger, magerer Mann mit großen Augen, die Mutter mit ihrem kirschblütenförmigen Mal auf der Wange, die Brüder und die kleine Schwester, die das Händchen zur Kamera ausstreckte, sie weckten in ihm eine Wehmut, wie er sie nie zuvor verspürt hatte und von der er wusste, dass sie sich nie lindern lassen würde. Er brauchte sich nur umzudrehen und die Gerade Straße herunterzulaufen, und schon würde er seinen lebendigen Vater hinter der Ladentheke sehen, seine lebendige Mutter, die in einem solchen Tempo Leber hackte, dass ihre Hand sich zu einem undeutlichen Umriss verwischte und nur die Messerklinge in der Küche blitzte, wo sich seine Brüder und die kleine Schwester auf der Suche nach Süßigkeiten herumtrieben. Doch Icek blieb damals vor der
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