Wolkenfern (German Edition)
Mädchens im Waisenhausgarten in seiner Erinnerung immer mehr verschwamm, so wie auch das Bild seiner im Lager ermordeten Eltern und Geschwister immer unschärfer wurde. Alle Bilder, die er in all den Städten und Städtchen zwischen Wałbrzych und New York gesehen hatte, wo er nach Grażynka Rozpuch suchte, hatten sich darübergelegt. Und, fragte Sara, ist deine Grażynka wirklich für immer verschwunden? Ich bin verschwunden, antwortete Icek Kac und lächelte sie an.
Oma La-Teesha seufzte tief und richtete sich auf. Holen wir neue Blumen für deine Mama, wiederholte sie. Das Porträt von Saras Mutter, das sie schmücken wollten, stammte aus der Zeitschrift Ebony . In einem Artikel über die Schulleistungen von Mädchen aus Brooklyn war unter anderem dieses Foto der siebzehnjährigen Shaunika Jackson abgedruckt worden. Ihre Miene war umwölkt, der Mund leicht geöffnet, die Haare umstanden ihr Gesicht wie eine schwarze Aureole, die Wangenknochen waren hoch und vorspringend, die Augen gelb wie die einer Katze. Sie hatte ein Sportstipendium für die City University von New York bekommen. Shaunika war ihrem Vater, Johnny Überraschungstasche, ähnlich und dementsprechend schwer zu bändigen. Sie trug gerne Kleidchen, die kaum ihren Hintern bedeckten, und im Unterschied zur Gepflogenheit ihrer Umgebung ließ sie sich das Haar nicht glätten, sie behauptete, das sei nicht mehr modern und in Manhattan trage man jetzt Afro. Im Sommer 1963 hatte Shaunika einen Job in einer Bar in Greenwich Village, wohin sich schwarze Mädchen aus Bed-Stuy nicht gerade oft verirrten. Sie verdiente dort mehr als ihre Mutter mit Putzen und wirkte zufrieden. La-Teesha nahm ihre Tochter Shaunika so ins Gebet wie später ihre Enkelin Sara: Baby, es ist, wie es ist, so soll es wohl sein, und wenn du es nicht glauben willst, dann wird dich das Schicksal dazu zwingen: In Bed-Stuy ist dein Platz und gib keinem die Schuld daran. La-Teesha war der Meinung, überall, im Osten wie im Westen, herrschte die gleiche Armut wie in Bed-Stuy und der beste Ort für spirituelle Erfahrungen sei die Kirche um die Ecke. Shaunikas Mutter betete, es möge kein Unglück geschehen, und da eine ungewollte Schwangerschaft im Leben ihrer Bekannten eher die Norm war als eine besondere Grausamkeit des Schicksals, war es wahrscheinlich so, dass sie diesen Punkt in ihrer täglich an den Himmel gerichteten Litanei entweder vernachlässigte oder dass die Herren des Himmels diese Bitte ebenso ignorierten, wie es bei den Irdischen üblich war.
Als Shaunika allmählich zunahm, seufzte La-Teesha nur, irgendwie würde es schon gehen, wer weiß, vielleicht war es sogar besser so, als dass sie auf die Uni ging, um zu studieren, denn dort lauerten Gefahren, die man sich kaum vorstellen konnte. Shaunika ließ den Platz im College sausen, und ihre Stelle in der Bar im Village verlor sie, weil ein Barmädchen mit Babybauch nicht gern gesehen war, und so nahm sie eine Stelle in einem kleinen Laden auf der Nostrand Avenue an, der einem alten Schwarzen gehörte. Sie verspürte dabei eine ähnliche Erleichterung wie ihre Mutter, denn in Wirklichkeit hatte sie nie das Bedürfnis gehabt wegzulaufen, nie hatte sie von Reisen in ferne Länder geträumt. Das Sportstipendium hatte sie einfach deshalb bekommen, weil sie am schnellsten laufen konnte, Sport war aber nicht ihre Leidenschaft, und sie hatte nicht das geringste Interesse an Konkurrenz und dem Streben nach Perfektion. Shaunika wirkte ungezähmt; so eine Ungezähmte, sagten die Leute von ihr, so eine Aufwallige, denn ihre Schönheit brachte sie dazu, Worte zu benutzen, die sich im Alltag nur selten anbringen ließen, in Wirklichkeit aber war sie einfach unentschlossen und unberechenbar. Das einzige Gefühl, an dem Shaunika keinerlei Zweifel hatte, war ihr Wunsch nach einem Kind. Sobald sie feststellte, dass sie schwanger war, wünschte sie sich nichts anderes mehr, als ob sie nur durch die Schwangerschaft zu sich selbst kommen, ihre wahre Natur entdecken könne. Sie wurde Mutter, bevor sie noch die Bewegungen des Embryos und die zunehmende Schwere spürte, die sie leise und erbarmungslos dazu verurteilte, das Schicksal ihrer Mutter, Großmutter und Urgroßmutter zu teilen. Diese Schwere bereitete Shaunika aber eine so vollkommene Freude, dass alles, was vorher geschehen war und später geschehen würde, an Bedeutung verlor. Sie war bei einer dieser Vergnügungen schwanger geworden, die am frühen Morgen begannen, wenn die Bar schon
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