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Wolkenfern (German Edition)

Wolkenfern (German Edition)

Titel: Wolkenfern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanna Bator
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Familienfotografie stehen, auf der er nicht vertreten war, und beweinte seine Familie, die er erst noch verlieren sollte.
    Als die Familie Kac zusammen mit allen anderen jüdischen Familien ins Getto nach Radomsko deportiert wurde, war Icek einer der wenigen, denen die Flucht gelang. Drei Wochen lang saß er im Wald am Rand der Sümpfe, und Mateusz Suliga brachte ihm täglich zu essen. Er kannte diesen Wald zwischen Kleszczowa und Gorzkowice wie seine Westentasche, das Weidengebüsch, die Erlenhaine und das von kleinen Wasserläufen durchzogene hohe Gras, er wusste, dass auch der beste Hund hier die Spur verlor und dass nach Einbruch der Dunkelheit hier die Verstorbenen irrlichterten. Die Teetanten waren die Einzigen, die sich ohne Angst in diese Gegend begaben. Doch jetzt war der Wald anders, und Icek Kac wurde bewusst, dass sein Schicksal von etwas viel Mächtigerem abhing als ihm selbst. Er schlief tagsüber, nachts lag er im Gras und hatte das Gefühl, der Wald sei ein gewaltiges gutartiges Tier mit feuchtem Fell, er drückte sein Gesicht hinein und holte tief Luft, er presste seinen ganzen Körper an den Boden, als wollte er in der Erde verschwinden. Er dachte an seine Eltern, Brüder und die Schwester nicht so, wie er sie zuletzt gesehen hatte: die Mutter mit dem kirschblütenförmigen Mal, die Schwester mit ihren zum Schmollmund verzogenen Lippen, wie sie es immer tat, wenn sie zeigen wollte, dass sie schon groß war und das Weinen unterdrücken konnte, den Vater, der zischte: Lauf weg, Junge! Wir haben keine sieben Kinder, wir haben nur sechs, schwor Mutter Kac, und zum Beweis für den Irrtum zeigte sie das Foto, das im Schaufenster des Fotoateliers gestanden hatte, bitte sehr, eine Fotografie lügt nicht, hier sind fünf Söhne und eine Tochter, dazu sie und ihr Mann und der Koffer, der vorschriftsmäßig gepackt war. Dort in seinem Versteck im Wald dachte Icek Kac an die Fotografien in der Auslage von Ludek Borowic’ Fotoatelier, nach und nach rief er sich jeden seiner Angehörigen in Erinnerung, wie sie angezogen waren, wie sie die Hände hielten, wie das Licht auf ihr Gesicht fiel und ein Lächeln oder die Abwesenheit eines Lächelns verewigte, und wenn er damit fertig war, fing er wieder von vorne an, bis die Sonne über den Sümpfen aufging und ihn wieder zum Leben erweckte. Icek Kac hatte weder seine Eltern noch seine Geschwister je wiedergesehen, alle waren sie in Treblinka ermordet worden, denn dorthin wurden die Juden aus dem Radomsker Getto deportiert.
    Der Tatsache, dass er das mittlere Kind war, hatte Icek vielleicht auch zu verdanken, dass die über jeden Zweifel erhabenen semitischen Züge seiner Eltern und Geschwister bei ihm nur undeutlich erkennbar waren. Mit seinen abstehenden Ohren, dem weder hellen noch dunklen Haar, den Augen von der Farbe trockener Kiefernzapfen hatte der für sein Alter große schlaksige Junge kein schlechtes Aussehen in einer Zeit, in der das Aussehen über Tod oder Leben entschied. Mateusz Suliga brachte ihn nach Tschenstochau, wo Icek im Waisenhaus der Anbeterinnen des kostbaren Blutes Gärtnergehilfe wurde. Zusammen mit seiner Arbeitskleidung und einer alten Schirmkappe bekam er den Namen Jaś. Dort traf er Grażynka wieder. Grażynka behauptete, sie sei zwölf, erzählte Icek Kac weiter, aber sie sah älter aus. Sie kam in den Garten des Waisenhauses und pflückte Erdbeeren, kleine, fast schwarze Herbsterdbeeren, die ganz süßen, sie trug ein graues Kleid wie die anderen Mädchen, aber andere Mädchen existierten für mich gar nicht, und einen Strohhut mit weiß-blau gepunktetem Band hatte sie auf dem Kopf. Ich hätte alles für sie getan, sagte Icek. Als Schwester Bernadette sie im Werkzeugschuppen erwischte, musste er das Waisenhaus der Anbeterinnen des kostbaren Blutes verlassen, denn er war dort als Arbeiter aufgenommen worden, also als Erwachsener und nicht als Kind. Grażynka gab ihm zum Abschied ein Geschenk, sie kam noch hinter ihm auf die Straße hinausgelaufen, obwohl die Schwester Pförtnerin Genowefa schrie wie am Spieß: Jessesmariaundjosef, kommst du sofort zurück, zum Teufel noch mal! Grażynka überreichte ihm etwas, das sie als Nachttopf Napoleons bezeichnete, und riet ihm, er solle ihn verkaufen, gegen Essen eintauschen, was auch immer, ihm würde er jetzt mehr nützen als ihr, denn er ziehe jetzt allein in die Welt, sie aber würde bald von den Teetanten abgeholt, da war sie ganz sicher, und auch dass ihnen das mit dem Nachttopf nichts

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