Wolkenfern (German Edition)
verbringt seitdem den größten Teil der Zeit im Bett, ins Bad kann sie nur mit dem Rollator gehen, und sie hat sich geschworen, dass sie nur so lange leben wird, wie sie noch in der Lage ist, es ohne fremde Hilfe zu schaffen. Frau Eulalia Barron kennt die Fortsetzung eines jeden Buches auf den Regalen, die die Wände ihrer Wohnung bedecken; die Fortsetzung ihrer eigenen Geschichte erscheint ihr ebenso offenkundig und vertraut, denn vor zwei Monaten ist sie achtzig geworden, und manchmal bleibt ihr Herz in der Nacht ein paar Augenblicke lang stehen. Dann erwacht sie in einer Stille, die zähflüssig ist wie Sirup, sie schlägt die Augen auf und wartet, die Hand auf die linke Brust gelegt. Das Herz kommt schließlich wieder in Gang, doch Eulalia Barron spürt, dass es das ungern tut, so, als wolle es sagen: Na gut, diesmal geb ich dir noch nach. Die Bücher sind für sie wie Treppenstufen, die nicht nach oben, sondern nach unten führen, in die Vergangenheit, und die alte Frau wählt sie vorsichtig und bedacht aus, so wie man auf einer Treppe mit der Fußspitze die Festigkeit der nächsten Stufe sondiert.
Manchmal stellt Eulalia Barron sich die Wanderung zum Vergangenen vor wie das Hinabsteigen auf der Treppe des Metropolitan Museum, wo sie gleich nach ihrer Ankunft in New York eine Arbeit in der Antikensammlung bekommen hatte. In dunklem Kostüm und weißer Bluse, mit einem Namensschildchen, auf dem Eulalia Barron stand, passte sie in Gesellschaft von drei anderen, ebenfalls mit schwarzem Kostüm und weißer Bluse bekleideten Frauen auf die Ausstellungsstücke auf. Beförderung interessierte sie nicht, und sie lehnte auch anspruchsvollere Aufgaben ab, die ihr angeboten wurden, weil sie vom ersten Augenblick an wusste, dass dieser Ort für sie ideal sein würde: Unbemerkt, fast unsichtbar, würde sie Menschen zuschauen können, so wie sie dem Leben zuschaute, das sich in Amerika ohne besondere Beteiligung ihrerseits abspielte. Solange sich die Besucher an die Vorschriften hielten, brauchte sie gar nichts zu sagen, und eine ungeschriebene Vorschrift in jedem Museum ist das Nichtbeachten der Museumswärter. Wenn viele Besucher da waren, ging Eulalia auf ihren kurzen, leicht geschwollenen Beinen im Saal umher, wenn wenig Betrieb war, ruhte sie sich auf einem Hocker in der Ecke aus, von wo aus sie alles im Blick hatte. Sie nahm Bücher mit an ihren Arbeitsplatz, obwohl es eigentlich nicht gestattet war, Romane im Taschenbuchformat oder kleine Gedichtbände, die sie leicht unter der Jacke verschwinden lassen konnte. Sie las, und drei, vier Sätze, die sie ergattern konnte, oder ein halbes Gedicht reichten ihr fürs zweite Frühstück. Manche Besucher erkannte sie wieder, Leute von der Universität mit Notizbüchern, Liebhaber, die die Rätsel der Antike lösen wollten, einsame Greise, Sonderlinge jeden Alters. Die regelmäßigen Besucher kamen, wenn weniger Betrieb war, manchmal stellten sie Fragen oder grüßten auch nur. Unter den regelmäßigen Besuchern war auch ein unscheinbarer Mann mit großen Ohren und traurigen Augen, der viel jünger war als Eulalia Barron. Als sie ihn zum ersten Mal sah, betrachtete er gerade eine Mumie. Sie fühlte sich ihm sofort auf eine seltsame Weise verwandt.
Eulalias Ehe ging nach einigen Jahren auseinander, die Tatsache, dass ihr ehemaliger Mann kurz darauf eine viel jüngere Frau heiratete und sich mit der Zeit eine ganze Kinderschar zulegte, nahm sie mit sanftem Gleichmut hin und ließ sich von den Kindern ihres ehemaligen Mannes wie eine entfernte und etwas verschrobene Tante behandeln. Leo Barron zog aus ihrer Mietwohnung aus, unterstützte seine geschiedene Frau jedoch finanziell bis ans Lebensende, damit sie bei ihren Büchern und Farnen bleiben konnte. Also las Eulalia Barron, und weil sie las, erinnerte sie sich, und als sie selbst nicht mehr lesen konnte, fand sie Dominika Chmura. Sie wurde nur dann ärgerlich, wenn ihr Gedächtnis sie trog, was mit zunehmendem Alter immer öfter geschah. Wie kann das sein, dass ich mich nicht erinnere?, empörte sie sich, wenn die ersehnte Erinnerung nicht die lang verlorene Tasse vor ihren Augen erstehen ließ, aus der sie in der Wohnung an der Studencka Straße, die ihr auch nicht mehr gehörte, heiße Schokolade getrunken hatte. Diese selbe Sehnsucht nach der Erinnerung hatte auch jener Besucher, Eulalia Barron erkannte es sofort. Er kam in den Saal der Antikensammlung und blieb jedes Mal vor demselben Exponat stehen, einer Mumie in der
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