Wolkenfern (German Edition)
ägyptischen Abteilung, die er stundenlang anstarrte. Nach ein paar Monaten begannen sie Grußworte zu wechseln, nach einem Jahr unverbindliche Bemerkungen, und nach weiteren zwei Jahren unterhielten sie sich. Diese Unterhaltungen betrafen nur die Vergangenheit. Warum?, fragte Eulalia Barron ihn, einen polnischen Juden aus Kamieńsk, warum immer die Antikensammlung und die Mumien? Weil ich mich dann besser erinnern kann, antwortete Icek Kac, und Eulalia Barron begriff sofort, worin sie beide sich von anderen Menschen unterschieden: Sowohl sie als auch Icek Kac lebten nur, um sich an das zu erinnern, was sie verloren hatten, für sich selbst waren sie Museumsexponate geworden. Die Erinnerung an Verlorenes, das Verlangen, es im Erinnern zur Perfektion zu bringen, stellten das Hauptziel ihres Lebens dar. Icek suchte den Weg in die Vergangenheit in Fotografien und Ausstellungsstücken im Museum, für Eulalia führte dieser Weg über die Bücher, und gegen Ende ihres Lebens las sie nur noch die Bücher, die sie schon in Krakau gelesen hatte, als habe sie ihre Familie nur überlebt, um sich tagtäglich daran zu erinnern: Als ich die Odyssee las, haben Onkel Jan und Tante Golde erzählt, dass sie ein Kind bekommen, als ich Rousseau las, ist meine Cousine Priwa fast an einer Mandel in der Bitterschokolade erstickt, bei Joyces Ulysses , der auf Englisch so schwierig war, dass ich dauernd gähnen musste, hat meine Mutter geweint, während sie die Mondscheinsonate spielte. Jedes Buch, das Dominika vorlas, war für Eulalia Barron eine Treppenstufe abwärts, seltener zwei, wie der Ulysses , den sie noch in Krakau zu lesen begann und in Yokohama beendete. Dominikas gedämpfte und etwas heisere Stimme hat Ähnlichkeit mit einer Stimme aus Eulalia Barrons Vergangenheit, lies mir von den Sirenen vor, mein Mädchen, bittet die Greisin.
Eulalia Barron wohnte in Krakau an der Studencka-Straße, zwei Schritte vom Markt entfernt, wo ihr Vater Feliks Meisels, klein und flink wie ein sympathisches Nagetier, eine Anwaltskanzlei hatte. Ihre Mutter Alina, vornehm und nach Geranien duftend, unterrichtete Klavier, und in ihrer freien Zeit topfte sie, mit großen Gärtnerhandschuhen bewaffnet, die Zimmerpflanzen um, die in ihrer Fünfzimmerwohnung mit beängstigender Geschwindigkeit und Kraft wuchsen. Den Gästen, die mit leisem Schauder des Entsetzens die Farne bewunderten, deren Blätter im Verlauf eines Abendessens so rasch wachsen konnten, dass sich ihre leicht pelzigen Spitzen in den Frisuren der Damen verhedderten, in die Saucieren krochen und aus den papierdünnen Tassen den Kaffee aufsaugten, erklärte Alina Meisels, dass Pflanzen in glücklichen Haushalten eben gut wachsen, zum Gedeihen brauchten sie eine liebevolle Atmosphäre und Musik. Die Damen lachten und richteten sich die Frisuren, die Herren taten scherzhaft so, als verteidigten sie die Damen gegen die bedrohlichen Farne, zückten eingebildete Dolche und zielten mit gespielten Pistolen. Władzia Dziurska, die im Haushalt die Rolle von Zimmermädchen, Dienstmädchen und Kinderfrau ausfüllte, räumte den Tisch ab, schenkte Kaffee nach, frisch geröstet und aufgebrüht und mit einer Prise Kardamom verfeinert, die Hände der Gäste griffen nach einer weiteren Makrone, nach einem weiteren köstlichen Canapée, und Frau Alina setzte sich ans Klavier und begann zu spielen. Wie sie die Mondscheinsonate spielte! In ganz Krakau gab es niemanden, der so spielen konnte, höchstens noch die Pianistin der Philharmonie, obwohl Feliks der Überzeugung war, nicht nur in der Krakauer, sondern auch in der Wiener Philharmonie gebe es niemanden, der sich mit seiner Frau messen könne. Im Sommer blieben die Passanten auf der Studencka stehen und blickten hinauf zu dem hellen Rechteck des Fensters auf der ersten Etage, aus dem die Musik strömte wie schäumende Fontänen silbriger Perlen. Da ist die kleine Eulalia Meisels, sie sitzt auf ihrem Schemel und betrachtet die Mutter mit einem solchen Entzücken, dass sie Schluckauf davon bekommt, ihr ganzes Leben lang wird sie bei Gefühlen des Entzückens und der Begeisterung ein Schluckauf plagen. Die Tochter hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit der leicht gebräunten, ausdrucksstarken Frau, die in weißer Bluse und dunklem Samtrock am Flügel sitzt. Manchmal versucht Eulalia vor dem Spiegel den Mund so zu verziehen, dass er etwas vom kapriziösen Schwung der Lippen ihrer Mutter hat, doch sie erzielt alles andere als die beabsichtigte Wirkung. Eulalia
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