Wolkengaenger
Strumpfhosen steckten, was zur Folge hatte, dass sich ihre Zehen darunter zusammenrollten. Der Anblick erinnerte
sie an die eingebundenen Füße chinesischer Frauen.
»Gefällt dir dein Auto?«, fragte sie.
»Ja, aber hast du auch eins für Andrej?« Er zeigte auf seinen Freund, einen hübschen kleinen Jungen mit einer Beule an der
Stirn.
»Er hat Glück, ich hab noch eins.«
Der sprechende Junge lächelte sie gewinnend an. Er schielte leicht.
»Wie heißt du?«, fragte er.
»Sarah.«
Er wiederholte den ihm fremden ausländischen Namen vollkommen korrekt. Die Defektologin wurde zunehmend ungeduldig.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte sie.
»Du kommst doch wieder? Bitte komm wieder.« Er sah ihr direkt in die Augen.
Sie versprach ihm wiederzukommen. »Aber wie heißt du?«
»Wanja. Ich heiße Wanja.«
Februar 1995
Wochen waren vergangen und Sarah hatte keine Zeit gefunden, Wanja wie versprochen wieder zu besuchen: erst kamen Weihnachten
und Silvester, dann eine Reihe Geburtstage in der Familie … Die Freude im Gesicht ihrer Tochter Catherine an ihrem sechsten
Geburtstag – mit Blindekuh und Stoptanz, dem Zauberer von der Britischen Botschaft, einem Barbie-Kuchen, den Louisa gebacken
hatte, und einem Berg Geschenke – |43| über all dem lag der Schatten des Bildes von Wanja in dem stillen Zimmer. Nur ein einziges von Catherines Geschenken hätte
ihn eine ganze Woche lang in Aufregung versetzt.
Sie hatte als Dolmetscherin inzwischen einige andere Babyhäuser besucht. »Mit jedem Besuch sah ich mehr kleine Kinder, die
schlecht be- oder gar misshandelt wurden. Mich nahm das alles derart mit, dass ich im Anschluss nur noch in mich zusammensacken
und mir den tröstlichen Mist im Satellitenfernsehen anschauen konnte. Es war so viel einfacher, sich darauf zu konzentrieren,
wie man ein Gericht aus einer Hähnchenbrust, zwei grünen Paprika und einer Banane zubereitete, als das Gesehene zu verarbeiten.«
Doch die Erinnerungen an ein klar und deutlich sprechendes Kind in diesem stillen Zimmer mit den unheilbaren Fällen vermochten
selbst die Fernsehsendungen nicht auszulöschen. In jedem Babyhaus gab es einen oder mehrere Räume wie diesen, für Kinder,
die niemals gelernt hatten zu laufen. Die Räume wurden vor Besuchern verschlossen gehalten, und der Umgang der Angestellten
mit ihnen machte deutlich, dass diese Kinder in ihren Augen weniger wert waren als andere Menschen. In keinem dieser Zimmer
hatte Sarah je ein Kind angetroffen, das so flüssig sprechen konnte wie Wanja. Und nie war sie einem Kind begegnet, das nach
einem Spielzeug für seinen Freund gefragt hätte. Bei jedem ihrer Besuche in einem Babyhaus bettelten die Kinder um Spielsachen
oder Süßigkeiten, doch stets nur für sich selbst. Sarah ließ die Frage nicht los, wie es Wanja gelungen war, eine solche Emotionalität
zu entwickeln.
Eines Morgens im Februar, sie stand gerade in ihrer Wohnung am Fenster und beobachtete den Strom vorbeifahrender Fahrzeuge
auf dem Moskauer Autobahnring, gingen ihr diese und andere Fragen wieder und wieder im Kopf herum. Ihre Kinder waren in der
Schule und Alan nebenan im Büro des
Daily Telegraph
. »Heute ist es soweit«, entschied sie.
Der Weg zum Babyhaus erschien ihr kein Problem, Adela dagegen ein sehr großes. Sarah wusste, dass ein einziger Fehler |44| genügte, um ihr den Zutritt zu Wanja und den anderen Kindern für immer unmöglich zu machen. Sie brauchte also einen Plan:
Sie musste etwas finden, das sie Wanja mitbringen konnte. Doch einen Vorrat an selbstgebackenen Keksen, wie Louisa ihn hatte,
besaß sie nicht. Wie ein Dieb schlich sie ins Zimmer ihrer Kinder und suchte nach etwas Ausrangiertem. Schließlich wurde sie
ganz hinten im Schrank fündig: eine kleine Spanplatte, ein Hammer, Nägel, bunte Holzplättchen. Sarah packte alles in ihre
Tasche.
Sie empfand es als unpassend, in einem teuren Auto am Babyhaus vorzufahren, und entschloss sich daher, zu laufen. Sie plante
einen Fußmarsch von etwa zwanzig Minuten ein.
Doch eine Dreiviertelstunde später rutschte und schlitterte sie immer noch über die vereisten Bürgersteige Moskaus. Rings
um das Babyhaus breitete sich das neue Russland aus und machte das Waisenhaus zu einer Insel inmitten einer gigantischen Baustelle,
auf der alte Gebäude abgerissen und Wohnungen für die Neureichen geschaffen wurden. Durch die Abrissarbeiten wirkte das Babyhaus
noch isolierter von der übrigen Stadt. Riesige,
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