Wolkengaenger
in Betonblöcken verankerte Metallzäune hatten etwa die halbe Gasse, die zum
Tor des Babyhauses führte, in Beschlag genommen, sie ähnelte einem einzigen Hindernisparcours, bei dem man Gefahr lief, ständig
in Gräben zu rutschen oder über Bauschutt zu stolpern.
Während Sarah sich ihren Weg die Gasse entlang bahnte, bemerkte sie vor sich eine Frau, der es deutlich schwerer fiel, sich
auf den Beinen zu halten. Sarah ging langsamer und beobachtete, wie die Frau von rechts nach links torkelte. Es war halb elf
Uhr morgens, und die Frau war offenbar bereits betrunken. Der Richtung nach zu urteilen, in die sie ging, arbeitete sie im
Babyhaus und würde womöglich schon bald ganz allein die Betreuung von einem Dutzend Babys oder Kleinkindern übernehmen. Sie
wankte durch das Tor und verschwand.
Als Sarah sich dem Babyhaus näherte, hörte sie eine laute Männerstimme – ein seltener Klang in dieser Frauenwelt. Vor dem
Eingang parkte ein Krankenwagen.
|45| Der Fahrer des Wagens brüllte eine Angestellte an, die am oberen Ende der Verandatreppe stand. Soweit Sarah verstehen konnte,
weigerte er sich, ein Kind ins Krankenhaus zu bringen.
»Warum verschwenden Sie meine Zeit?«, schrie er. »Haben sie allen Ernstes gedacht, ich würde sie mitnehmen? Ich habe schon
genug zu tun, da brauche ich mich nicht noch mit Waisenkindern herumzuärgern.«
Trotz seines aggressiven Tons bemühte sich die Frau, ihn umzustimmen.
»Aber sie ist ganz blau angelaufen. Sie liegt im Sterben. Es ist ihr Herz.«
»Und welches Krankenhaus wird sie, bitte schön, aufnehmen? Keins. So viel sollten Sie inzwischen begriffen haben«, donnerte
der Fahrer.
Sarah schlich sich an eine andere Angestellte heran, die hinter einer Säule stand und die Szene schweigend beobachtete. »Was
ist hier los? Wo ist Adela?«
»Oh, sie ist irgendwo drinnen.«
Im Schutze der Auseinandersetzung schlüpfte Sarah ins Haus. Vorsichtig lief sie an den abgeschlossenen Zimmern vorbei und
klopfte an die Tür der Chefärztin. »Wer ist da?«, fragte eine zaghafte Stimme.
»Ich bin’s, Sarah. Was ist da draußen los?«
Stille. Dann wurde ein Schlüssel im Schloss gedreht und die Tür einen Spalt geöffnet. Sarah erhaschte einen flüchtigen Blick
auf Adelas Gesicht, in dem sich Panik spiegelte. Die Tür ging wieder zu. Adela hatte sich offenbar in ihrem Büro verschanzt,
um der Konfrontation mit dem Fahrer aus dem Weg zu gehen.
»Adela, bitte lassen Sie mich rein«, bat Sarah. Die Tür ging auf, und diesmal ließ Adela sie hineinhuschen. Sie zitterte buchstäblich
vor Angst, als sie die Tür hinter ihnen abschloss.
Dann platzte die ganze Geschichte aus ihr heraus. In der Nacht zuvor war Waleria, das Mädchen von der Fensterbank in Gruppe
2, blau angelaufen und hatte kaum mehr Luft |46| bekommen. Am Morgen hatte Adela dann einen Krankenwagen gerufen. Nach einer Stunde war noch immer niemand gekommen. Waleria
bekam immer schlechter Luft, woraufhin sie in den Isolationsraum im Erdgeschoss gebracht wurde. Adela rief ein weiteres Mal
beim Notruf an und flehte, jemanden vorbeizuschicken. Als der Fahrer dann endlich da war, warf er einen Blick auf Waleria
und weigerte sich, sie mitzunehmen, weil sie aus einem Babyhaus kam und er ganz Moskau nach einem Krankenhaus absuchen müsste,
das sie aufnehmen würde.
Draußen wurde ein Motor angelassen. Adela und Sarah schauten aus dem Bürofenster und sahen, wie der Rettungswagen vom Grundstück
rollte, leer. Im Isolationsraum rang Waleria nach Luft.
Sarah kam eine Idee, und sie fragte Adela, ob sie telefonieren dürfte. Sie wählte Alans Büronummer im
Daily Telegraph
.
»Alan, wir haben hier einen Notfall.«
»Was du nicht sagst. Ganz Russland ist ein einziger Notfall. Der Armee droht eine Meuterei, und Jelzin ist mal wieder bei
einem Saufgelage verschüttgegangen.«
Sie ging nicht darauf ein und drängte weiter. »Ein kleines Mädchen braucht deine Hilfe. Es liegt im Sterben. Du kommst doch
an eine Liste mit Moskauer Herzchirurgen ran, oder? Bring sie hierher. Wir müssen dringend eine Herzoperation veranlassen.
Eine Männerstimme hat mehr Einfluss.«
Adela hockte auf der Kante eines kleinen Sofas, starrte auf den Boden und sorgte sich, dass die Einmischung der Ausländer
sie in Schwierigkeiten bringen könnte. Eine halbe Stunde später kam Alan mit der Liste im Babyhaus an und begann, von Adelas
Büro aus verschiedene Herzchirurgen anzurufen. Seltsamerweise hatten diese
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