Wolkengaenger
Mutter in Verbindung setzen und ihr sagen, wie gut es ihm geht?«
Viele der Kinder benötigten kleinere Operationen, um Gaumenspalten oder grauen Star zu therapieren. Doch die stellvertretende
Chefärztin hatte stets eine Ausrede parat, warum die Operationen nicht veranlasst worden waren. Dieser Junge hatte die Windpocken
und konnte daher nicht operiert werden. Bei jenem Jungen lag das Herz auf der falschen Seite.
Über Waleria, das »blau angelaufene Mädchen«, das der Krankenwagenfahrer nicht hatte mitnehmen wollen, war Dr. Swanger im
Vorfeld als einziges unterrichtet worden. Kurz nach Sarahs und Alans Einsatz war Waleria zu einer Untersuchung ins Krankenhaus
gebracht worden und wartete nun im Babyhaus auf einen Termin für die Operation. Dr. Swanger hatte ihren Fall mit Dr. Iljin
besprochen. Der Chirurg war in der Lage, in jedem noch so schlecht ausgestatteten Operationssaal, ohne Gummihandschuhe und
passende Antibiotika, medizinische Wunder zu vollbringen. Doch selbst die beste medizinische Versorgung der Welt würde Waleria
nicht helfen, wenn sie keinen Grund hatte zu leben.
»Sie hat nur eine einzige Überlebenschance«, sagte Dr. |54| Swanger. »Wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen wird, muss sie vierundzwanzig Stunden am Tag, rund um die Uhr von jemandem
betreut werden, dem sie am Herzen liegt – jemand, der sie stimuliert, füttert und sich ihrer annimmt.« Das klang nach eben
jener Person, die nicht verfügbar war: eine Mutter.
Betrübt musste Sarah mit ansehen, wie die klugen Ratschläge des amerikanischen Arztes auf taube Ohren stießen. Zwar lauschte
ihm das Personal mit gespannter Aufmerksamkeit, doch sahen sie in ihm offenbar eine Art Alleinunterhalter, und niemand machte
sich die Mühe, seine Anregungen zu notieren.
Seine ruhige, neutrale Art wurde vor eine Zerreißprobe gestellt, als er ein vierjähriges Mädchen namens Anna untersuchte,
das aufgrund einer Rückenmarkverletzung von der Hüfte abwärts gelähmt war. Obwohl die beiden nicht die gleiche Sprache sprachen,
lachten und scherzten sie miteinander. Als Dr. Swanger ihre Ohren untersuchten wollte, gab er ihr sein Otoskop, damit sie
zuvor in seine Ohren schauen konnte und so ihre Angst verlor.
Als er sich ihren Rücken ansah, stand ihm der Schreck ins Gesicht geschrieben. Sie brauchte dringend ein Korsett, da ihre
ständig krumme Sitzposition den Zustand ihres Rückens verschlechterte. Die stellvertretende Chefärztin erklärte, dass sie
ein Korsett gehabt habe, es aber nicht habe tragen wollen, da es ihr zu hart war. Wortlos holte er Stift und Papier aus seiner
Tasche und fertigte eine Skizze von einem einfachen Korsett an, das man problemlos selbst herstellen könnte und das verhindern
würde, dass sich der Zustand ihrer Wirbelsäule weiter verschlechterte. Vor allem aber, sagte er, brauche sie einen Rollstuhl
– im Babyhaus etwas, das es noch nie gegeben hatte.
Fröhlich verabschiedete sich Dr. Swanger von Anna und machte sich auf den Weg nach oben zu Gruppe 2, dem anderen Zimmer mit
den unheilbaren Fällen.
»Anna ist ein so kluges Mädchen«, sagte Sarah zu der stellvertretenden |55| Chefärztin, als sie die Treppe hinaufgingen. »Sie erinnert mich an Wanja. Kennen sich die beiden?«
»Sie sind in verschiedenen Gruppen.«
»Aber sie würden einander so gut tun. Sie könnten sich unterhalten.«
»Nein, das geht nicht. Sie können beide nicht laufen – die Belastung für die Betreuerinnen wäre entschieden zu groß. Wir müssen
die schweren Fälle auf verschiedene Gruppen aufteilen.«
Als sie das Zimmer betraten, sah Wanja sofort von seinem Tisch auf. Er freute sich, ein neues Gesicht zu sehen, besonders
ein männliches.
»Und wer ist dieser junge Mann?«, fragte Dr. Swanger.
»Pastuchow. Frühgeburt. Infantile Zerebralparese, wie Sie sehen können«, sagte die stellvertretende Chefärztin.
Sarah unterbrach ihre Funktion als Dolmetscherin. »Dr. Swanger. Das ist Wanja. Wir haben uns angefreundet. Ich wünschte, Sie
würden seine Sprache sprechen. Er liebt es, sich zu unterhalten.«
»Hi Wanja. Ich bin Ronald.«
Während Wanja den Namen des Arztes voller Konzentration wiederholte, ging dieser neben ihm in die Hocke.
»Junger Mann, du schielst. Das sollten wir in Ordnung bringen.«
Er wandte sich an die stellvertretende Chefärztin. »Es ist eine ganz einfache Operation. Sie sollte so bald wie möglich durchgeführt
werden.«
»Wir wollten das veranlassen«, sagte sie und
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