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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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die Blume und gab sie ihm. Er fasste sie am Stängel und bestaunte die verschachtelte
     Anordnung der Blütenblätter. »Das ist Löwenzahn. Er strahlt wie die Sonne, nicht wahr?«
    »Sonne«, wiederholte Wanja. »Was ist die Sonne?«
    Mit diesen vier Worten hatte Wanja eine schreckliche Wahrheit enthüllt. Für ihn war »draußen« ein anderer Planet, auf den
     er nie einen Fuß gesetzt hatte, da er nie zuvor »draußen« gewesen war. Alles, was er kannte, war das, was sich innerhalb der
     vier Wände von Gruppe 2 befand.
    »Ich war fassungslos«, sagt Wika. »Egal, auf was um uns herum ich deutete, er kannte es nicht. Nicht den Himmel und nicht
     die Wolken, die über uns aufzogen, nicht das Gras, auf dem wir saßen, oder die Schaukeln, die regungslos neben uns hingen,
     oder das Tor, das ihn von der Außenwelt trennte. Verzweifelt suchte ich nach irgendetwas, das er kennen könnte. Einzig der
     schmutzigweiße Wolga Kombi, der vor dem Eingang stand, rief eine Reaktion hervor – Auto –, da er einmal mit einem Spielzeugauto
     gespielt hatte.«
    |61| Wika fühlte das Gewicht der Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, schwer auf ihren Schultern lasten. Was sollte sie ihm zuerst
     beibringen, wo mit dem Unterricht beginnen? »Wir fangen mit den Farben an«, beschloss sie.
    Sie setzte Wanja ins Gras, stand auf und ging los, um das Grundstück nach etwas Buntem abzusuchen.
    Es zogen immer mehr Wolken auf und die Atmosphäre wurde bedrückender. Eine einzige rote Mohnblume wuchs in dem mageren Boden.
     Im Sandkasten fand sie einen blauen Eimer. Es begann zu regnen, doch Wika suchte weiter nach Farben und geriet dabei immer
     weiter in den hinteren Teil des Gartens, von wo sie Wanja nicht mehr sehen konnte. Plötzlich donnerte es markerschütternd,
     der Himmel öffnete seine Schleusen, und dicke Regentropfen prasselten auf sie hernieder. Wika rannte los, um Wanja zu holen.
     Als sie um die Ecke bog, sah sie ihn auf dem Boden knien. Er hatte den Kopf in den Nacken geworfen, die Arme ausgestreckt
     und strahlte, während ihm der Regen das Gesicht runterlief und sein T-Shirt durchnässte.
    Er sah aus wie ein Junge, der in einem ausgedörrten Land den lang ersehnten Monsun begrüßt. Doch dieser Junge lebte in Russland,
     einem feuchten Land. Er kannte den Regen nicht, weil er sein gesamtes bisheriges Leben in einem einzigen Zimmer verbracht
     hatte.
    Wika rannte zu ihm, nahm ihn auf den Arm, tanzte mit ihm und teilte seine Freude. »Regen, Wanja. Das ist Regen.«
    »Regen«, wiederholte er und legte den Kopf in den Nacken, um so viel wie möglich davon zu spüren. »Ich liebe dich, Regen.«
     
    In diesem Moment erkannte Wika, dass Wanja genauso hilfsbedürftig war wie Mascha. Er war ein so eifriger kleiner Junge, der
     sich in einer beinahe geräuschlosen Welt selbst das Sprechen beigebracht hatte. Und dennoch wurde er so schmählich vernachlässigt.
     Mit fünf Jahren hatte er keine Vorstellung von Sommer und Winter, wie alt er war oder in welcher Stadt er |62| lebte. Wie sollte er ohne dieses Wissen je in der Schule zurechtkommen?
    Es gab nur eine einzige Betreuerin, die Wikas Sorge um Wanja teilte, und das war Walentina. Von allen Angestellten im Babyhaus
     war sie die Einzige, die nicht der Meinung war, dass körperlich behinderte Kinder auch geistig zurückgeblieben waren. Alles,
     was Walentina über Kindererziehung wusste, hatte sie von ihrer Mutter gelernt, die groß geworden war, bevor die Bolschewiken
     der Institution Familie den Kampf angesagt hatten. Walentina hatte keine Ausbildung, aber sie verstand rein intuitiv mehr
     von Wanjas Bedürfnissen als sämtliche Fachleute im Babyhaus, die sich einem System beugten, in dem behinderte Kinder weggesperrt
     wurden.
    Nach Ansicht des Personals waren die Kinder in Gruppe 2 nicht zu retten. Sie hatten sie abgeschrieben. Trotzdem brachte Walentina
     Wanja alte russische Gedichte und Lieder bei, die sie von ihrer Mutter und Großmutter gelernt hatte. Und sie freute sich über
     die lustigen Dinge, die er immer sagte. Wenn sie im Anschluss an ihren Dienst nach Hause kam, fragte ihr Mann stets: »Was
     hat dein kleiner Wanja denn heute gesagt?« Trotz der anstrengenden Vierundzwanzig-Stunden-Schichten zwang sie Wanja, sich
     hinzustellen, und übte Laufen mit ihm. Die anderen Betreuerinnen legten ihm, einem Fünfjährigen, Windeln an, doch sie brachte
     ihm bei, aufs Töpfchen zu gehen.
    Im Laufe der Monate lernte Wika, ihre Besuche mit Walentinas Diensten abzustimmen,

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