Wolkengaenger
Stimme
zurück. Er hatte gehofft, von mir bemerkt zu werden, doch er durfte sein Zimmer nicht verlassen – eine Vorschrift, die strikt
eingehalten wurde.«
Wikas Freundin, die sie mit ins Babyhaus genommen hatte, verbitterte zusehends. Außer Füttern und Wickeln konnte sie nichts
für die Kinder tun. Die Leitung des Babyhauses unternahm alles Erdenkliche, um Bindungen zwischen Personal und Kindern bereits
im Keim zu ersticken. Als ihre Freundin eine Beziehung zu einem kleinen Mädchen aufbaute, wurden die beiden getrennt. Das
Babyhaus schob die Kinder laufend zwischen den Gruppen hin und her, trennte sie von vertrauten Betreuerinnen und Freunden.
Am nachteiligsten wirkte sich die starre Einteilung in »gesund« und »krank« auf die Kinder aus. Die Kranken kamen in Gruppe
2. Einmal deutete Wikas Freundin auf die Tür zur Gruppe 2 und sagte: »Diese Kinder werden alle sterben.« Zu diesem Zeitpunkt
verstand Wika noch nicht, wovon ihre Freundin sprach. »Ich dachte, sie hätte den Verstand verloren«, erinnert sich Wika. Wenig
später kündigte jene Freundin ihre Stellung.
Eines Tages musste Wika schockiert feststellen, dass Mascha in Gruppe 2 verlegt worden war. Ihr erster Eindruck von diesem
Zimmer ist ihr bis heute in Erinnerung geblieben: »Es herrschte eine bedrückende Stille, wie in einem Krankenzimmer voller
Sterbender. Mascha war kaum in diesem Raum |59| angekommen, da begann sie bereits, all ihre bisher erworbenen Fähigkeiten einzubüßen. In Gruppe 1 hatte sie gelernt zu greifen
und zu kauen, wenn auch später als normal. Sie konnte sogar selbständig mit einem Löffel essen. Doch die Betreuerinnen in
Gruppe 2 hatten keine Geduld mit ihr, sagten, sie würde zu lange brauchen, um allein zu essen, und steckten ihr ein Fläschchen
in den Mund. Sie banden sie in einem Stuhl fest, so dass sie sich nicht bewegen konnte. Eine der Betreuerinnen sagte zu mir:
›Was hat es für einen Sinn, ihr etwas beizubringen? Was Sie auch tun, mit vier Jahren ist für sie sowieso Schluss. Sie ist
verloren.‹ Es gab nur ein Anzeichen von Leben in diesem Zimmer, und das war der lockenköpfige Junge, der sich mir als Wanja
vorstellte. Er merkte sich meinen Namen und schenkte mir jedes Mal ein Lächeln, wenn ich Mascha besuchen kam. Ich konnte nicht
begreifen, wie er es schaffte, an solch einem entsetzlichen Ort zu lächeln.«
Wika erinnert sich, wie er ihr stets auf liebevolle Art in den Ohren gelegen hatte, sie solle ihn doch auch einmal mit nach
draußen nehmen. Er begriff sofort, dass sie Mascha in den Garten brachte, und hatte es sich zum Ziel gesetzt, ebenfalls nach
draußen zu kommen. Doch Wika ließ seinen Wunsch unerfüllt. Sie dachte, er brauche sie weniger als Mascha.
Jedes Mal, wenn Wika mit Mascha zurückkam, fragte Wanja: »Gehst du jetzt mit mir nach draußen, Wika?« Sie sagte immer nein.
Eines Tages ertrug sie sein niedergeschlagenes Gesicht nicht mehr und gab nach. Als Wika ihn von seinem Stuhl hob, konnte
er einen Freudenschrei nicht unterdrücken.
Es war ein sonniger, wenn auch leicht diesiger Tag mit vereinzelten Wolken am Himmel. Als sie Wanja durch die Tür nach draußen
trug, erkannte Wika sofort, dass er Sonnenlicht nicht gewöhnt war, da er seine Augen mit den Händen abschirmte. Es war, als
hätte er zeitlebens eine Augenbinde getragen, die ihm soeben jemand abgenommen hatte. Neugierig bestaunte er den heruntergekommenen
Spielplatz.
Wika beschloss, ihm eine kleine Unterrichtsstunde in Sachen |60| Natur zu geben und ihm die Namen der Bäume beizubringen. Sie brachte ihn zu einer Linde und zeigte ihm den dunklen Stamm und
die hellgrünen Blätter. »Also, Wanja. Das ist eine Linde. Siehst du die Blätter? Sie sind herzförmig. Und im Sommer werden
sie ganz klebrig.« Sie half ihm, ein Blatt zu berühren, und er war fasziniert davon.
Sie sah sich auf dem Grundstück nach einem anderen Baum um. »Welche Bäume kennst du noch?«
Wanja schwieg. Wika gab ihm Hilfestellung – Tanne, Eiche, Ahorn? Bestürzt musste sie erkennen, dass er keine Ahnung hatte,
wovon sie sprach.
Irgendwann würde er zur Schule gehen. Er musste Bäume und Blumen kennen. Sie setzte ihn auf die Erde und suchte nach Blumen,
doch außer Unkraut und ein bisschen Gras wuchs unter den Bäumen im Garten nichts.
Als sie sich nach Wanja umdrehte, sah sie, wie er seine Hand nach einer gelben Blume ausstreckte, einem einsamen goldenen
Fleck im Schatten der Bäume. Sie pflückte
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