Wolkengaenger
suchte nach einer Ausrede. »Aber sein Gesundheitszustand ist zu schlecht.«
»Und du läufst gar nicht?«, fragte Dr. Swanger irritiert und begann, Wanjas Füße zu untersuchen. Er zog ihm die mit Bändchen
verschnürten Socken aus, unter denen seine Füße in einem viel zu kleinen Strampelanzug steckten. »Am besten wäre es für dieses
Kind, barfuß zu gehen. Mit unterstützender Physiotherapie könnte der Junge lernen zu laufen.«
Pflichtbewusst dolmetschte Sarah diesen revolutionären |56| Vorschlag. Sie sagte ihm, dass sie hier noch nie eine Betreuerin erlebt hatte, die ein Kind ermuntert hätte zu laufen. Wie
die australischen Physiotherapeutinnen konnte auch Dr. Swanger keine Rechtfertigung für die Diagnose »infantile Zerebralparese«
erkennen.
»Könnte er nicht adoptiert werden?«, fragte er weiter.
Die Stellvertreterin gab keine Antwort. Erst viele Jahre später würde Sarah zufällig in einem Gespräch mit genau dieser Frau
eine Antwort bekommen. Ohne die geringste Spur von Reue gab sie zu, dass sie Adela davon abgeraten hatte, Wanja zur Adoption
freizugeben, als dieser zwei Jahre alt gewesen war. Sie hatte Adela daran erinnert, dass infantile Zerebralparese im frühkindlichen
Alter schwer festzustellen sei, und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis man sie bei Wanja nachweisen würde. Die Adoptiveltern
zu täuschen wäre nicht richtig, hatte sie argumentiert. Adela, schwach wie immer, hatte sich ihrer Meinung angeschlossen.
Mit diesen wenigen Worten war Wanjas Schicksal besiegelt worden. Er würde den Rest seiner Tage in dem Zimmer mit den unheilbaren
Fällen verbringen, wo nur eines sicher war: dass die Resignation der Betreuerinnen ihn zu einem behinderten Kind machen würde.
Keine von Dr. Swangers Anregungen wurde aufgegriffen oder gar umgesetzt. Es fand kein Gespräch mit der Mutter des Jungen mit
dem Down-Syndrom statt, es gab kein Korsett für Anna, keine Augenoperation für Wanja. Das Leben im Babyhaus ging weiter seinen
gewohnten Gang. Alles, was blieb, war die Erinnerung an einen exotischen amerikanischen Arzt.
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|57| 3.
PILZE UND PAPAGEIEN
1994 bis 1995
Sarah wusste nicht, dass zu dem Zeitpunkt, als sie mit ihren Besuchen im Babyhaus 10 begann, Wika dort bereits seit einigen
Monaten ein und aus ging. Wanjas Schicksal war es, das die beiden Frauen zusammenführte. Doch dazu kam es erst, als er sich
in größter Lebensgefahr befand.
Es war das Jahr 1994, und die eisernen Regeln der Sowjetzeit begannen sich zu lockern, wodurch sich Möglichkeiten eröffneten,
die es zuletzt vor siebzig Jahren, also noch vor dem Beginn der kommunistischen Ära gegeben hatte. Vielleicht war das der
Grund, weshalb Wika das Babyhaus inzwischen so problemlos regelmäßig aufsuchen konnte, auch wenn Adela Ärger mit den Behörden
drohte, falls diese davon erführen.
»Ich hatte gerade den christlichen Glauben für mich entdeckt und war auf der Suche nach etwas, das meinem Leben einen Sinn
gab«, erinnert sich Wika. »Mein fünfjähriges Physikstudium hatte ich beendet. Doch statt mir eine Arbeit zu suchen, trug ich
mich für einen Abendkurs ›Neues Testament‹ in meiner Kirche ein. Ich erzählte meinem Priester nichts von meiner Absicht, freiwillig
in einem Babyhaus zu helfen, da ich befürchtete, er würde mein Handeln nicht gutheißen und es lieber sehen, wenn ich in der
Gemeinde oder gar der Kirche selbst arbeitete. Doch ich war der Überzeugung, dass Christen in der Gemeinschaft tätig sein
sollten. Meine Besuche im Babyhaus behielt ich daher für mich.
Ich freundete mich mit einer Frau an, die als Betreuerin im Babyhaus arbeitete und mich eines Tages dorthin mitnahm. Niemand
versuchte, mich daran zu hindern, Unterstützung |58| fand ich allerdings auch keine. Meine Freundin arbeitete bei den Neugeborenen in Gruppe 1. Ich vernarrte mich regelrecht in
ein kleines Mädchen namens Mascha. Die Ärzte hatten sie aufgegeben. Noch vor Vollendung ihres ersten Lebensjahres hatten sie
sie als körperlich und geistig unheilbar krank abgeschrieben. Doch ich konnte sehen, dass sie einfach nur Liebe und Zuwendung
brauchte. Sie besaß ein so intelligentes Gesicht und unternahm erste Sprechversuche.«
Während Wika ihre ganze Aufmerksamkeit Mascha schenkte, erregte sie selbst jemandes Aufmerksamkeit. Eines Tages sei ein kleiner
Lockenkopf in der Tür zum Nebenzimmer aufgetaucht, erinnert sie sich. »Er schaute herein, dann rief ihn eine barsche
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