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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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einen Moment lang nach. »Meinen Sie den, der sprechen kann?«
    »Ja! Wie geht es ihm?«
    »Ich bringe Sie zum Kindertrakt.«
    Als die Frauen sich anschickten, sie zu verfolgen, gab ihnen der Teenager durch ein Zeichen zu verstehen, dass sie sich fernhalten
     sollten. Er führte Wika durch einen Flur, eine Treppe hinauf, einen Gang entlang und noch eine Treppe hinauf, bis sie jegliche
     Orientierung verloren hatte. Dann nahmen sie eine weitere Treppe nach oben und blieben vor einer verschlossenen Tür stehen.
     Der junge Mann klopfte.
    Während sie in dem fensterlosen Treppenhaus darauf warteten, dass die Tür geöffnet wurde, fragte sie ihn nach seinem Namen.
    »Ilja.«
    »Ist Wanja wirklich hinter dieser Tür?«
    Ilja gab keine Antwort. Stattdessen klopfte er ein weiteres Mal, diesmal mit mehr Nachdruck.
    Eine Frau in einem weißen Kittel öffnete die Tür einen Spalt und sah sie feindselig an. Wika lächelte und sagte: »Ich möchte
     Wanja besuchen.« Die Frau verzog keine Miene und ließ sie widerwillig eintreten. Sie wies Ilja an, Wika den Weg zu zeigen,
     und verschwand den Flur hinab. Ilja führte Wika zu |94| einer Tür. Nichts hätte sie auf das vorbereiten können, was sie dahinter erwartete.
    »Als Erstes schlug mir der Geruch entgegen, und ich prallte zurück. Es stank wie in einem Stall. Der kahle Raum war vollgestopft
     mit Gitterbetten. Ich nehme an, dass ich mit einem fröhlichen ›Wika, Wika‹, Wanjas Willkommensruf, gerechnet hatte. Doch als
     ich mich umsah, konnte ich keinen freudig lächelnden Lockenkopf entdecken. Alles, was ich sah, waren unzählige Gitterbetten,
     in denen Kinder Qualen litten. Manche lagen vollkommen bewegungslos da, andere schaukelten von einer Seite zur anderen. Wieder
     andere schlugen ihre Köpfe gegen die Gitterstäbe oder waren in Zwangsjacken verschnürt, ihre Hintern waren nackt.«
    Vollkommen geschockt blickte sich Wika nach einer Betreuerin oder auch nur einer Reinigungskraft um, die ihr Wanja zeigen
     sollte. Doch in dem Zimmer war kein Erwachsener. Ilja deutete in die hintere Ecke des Raumes, und Wika bahnte sich einen Weg
     durch die Gitterbetten, verzweifelt auf der Suche nach dem Kind, das sie einst kannte. Dann entdeckte sie, auf einer blanken
     Plastikmatratze kniend, einen Jungen, der stumm vorwärts- und rückwärtsschaukelte. Am unteren Ende der Matratze schwamm eine
     Lache Urin. Der Schädel des Jungen war kahlrasiert, und er trug lediglich ein T-Shirt. Langsam hob er seinen Kopf, um sie
     anzusehen, und auf seinem leeren Gesicht zeigte sich ein schwaches Lächeln, als er sie erkannte.
    »Wanja, was haben sie dir angetan?«, stieß Wika hervor. Sie hob ihn aus dem Bett und drückte ihn fest an sich. Sie konnte
     ihre Tränen nicht zurückhalten. Er öffnete den Mund, brachte jedoch nur ein einziges Wort zustande: »Wika.«
    »Such ihm bitte etwas zum Anziehen, Ilja«, sagte sie zu dem jungen Mann. »Ich muss ihn hier rausbringen.« Sie trug Wanja auf
     den Flur, wo es nicht ganz so penetrant nach Kot und Urin stank.
    Ilja führte sie in einen kleinen, wie ein Leichenschauhaus weißgekachelten Raum, in dem zwei kleine Tische und ein paar Eisenstühle
     standen. Auf dem Boden lag ein zerschlissener |95| Fetzen Teppich. »Hier können Sie sich hinsetzen«, sagte Ilja. »Ich muss den Kindern jetzt ihre Fläschchen geben.«
    Sie setzte Wanja auf einen der Stühle. Als sie sich aufrichten wollte, stieß sie mit ihrem Kopf gegen ein Lüftungsrohr, das
     nutzlos von der Decke herabhing. Doch dieser Schmerz war nichts verglichen mit der seelischen Qual, die Wanjas Zustand in
     ihr auslöste.
    Kraftlos kaute Wanja auf einer der mitgebrachten Gurken herum. Er hatte Mühe, auf dem Stuhl sitzen zu bleiben, ohne zur Seite
     zu kippen. Es war, als würde der Tod schrittweise von ihm Besitz ergreifen. Wika hatte eine Unterwelt betreten, die Kinder
     hier waren tot, obwohl ihre kleinen Herzen noch schlugen und sich ihre Körper bewegten. Sie dachte daran, wie nah Wanja und
     sie sich gewesen waren. Doch nun ragte zwischen ihnen eine Mauer auf – ein Grabstein. Im Babyhaus hatte er so viel Selbstvertrauen
     ausgestrahlt. Nun war aus ihm ein Niemand geworden.
    Gewissensbisse quälten Wika, weil sie ihren Besuch so lange aufgeschoben hatte. Wenn sie doch nur stärker wäre, dachte sie,
     und älter und mutiger, dann hätte sie all das verhindern können.
    Sie hatte ein Bilderbuch dabei: die Geschichte von den drei kleinen Schweinchen, Wanjas Lieblingsbuch.
    »Wie macht

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