Wolkengaenger
das Schwein?«, fragte sie ihn. »Erinnerst du dich? Das haben wir immer zusammen gemacht.«
Wanja überlegte und schien etwas sagen zu wollen, doch aus seinem Mund kam kein einziger Laut. Sie las weiter. Die Worte kamen
wie von selbst, während sich in ihrem Kopf alles drehte von dem Schock, den Wanjas Anblick in diesem furchtbaren Zimmer in
ihr ausgelöst hatte. »Da sagt der Wolf: ›Ich werde strampeln und trampeln, ich werde husten und prusten und dir dein Haus
zusammenpusten.‹« Wenn nur ein Wolf kommen und diese Anstalt zusammenpusten könnte. Dann würde sie Wanja aus den Trümmern
befreien und von hier fortbringen.
Die Betreuerin, die ganz allein für die Kinder zuständig zu sein schien, betrat den Raum. In der Hand trug sie ein Fläschchen |96| mit einer grauen Flüssigkeit, das sie Wika wortlos reichte. Es handelte sich um Wanjas Mittagessen.
»Entschuldigen Sie. Könnten wir bitte eine Schüssel und einen Löffel bekommen? Ich helfe ihm beim Essen.«
Die Frau warf ihr einen finsteren Blick zu und kam kurze Zeit später mit der gleichen grauen Flüssigkeit in einer Schüssel
sowie einem Vorlegelöffel aus Aluminium zurück, der viel zu groß war für Wanjas Hände und seinen kleinen Mund. Er griff nach
dem Löffel, und wie Wika entsetzt feststellen musste, zitterten seine Hände derart, dass er nicht in der Lage war, den Löffel
von der Schüssel zum Mund zu führen, ohne sich mit der Flüssigkeit zu bekleckern. Was war nur mit ihm geschehen?
Als die Betreuerin zurückkam und die Flecken auf Wanjas T-Shirt sah, sagte sie: »Wie ich es mir gedacht habe, er kann nicht
alleine essen. Jetzt muss alles gewaschen werden.« Wika fühlte sich entsetzlich. Sie hatte soeben jegliche Chance vertan,
dass Wanja hier je wieder selbständig würde essen dürfen. Und unentwegt graute ihr vor dem Moment, wenn sie ihn zurück auf
seine schmutzige und stinkende Matratze würde legen müssen.
Ilja betrat den Raum und riss sie aus ihren Gedanken. Er hatte zwei gelangweilt aussehende Freunde mitgebracht, die die Besucherin
in Augenschein nehmen wollten. Trotz ihrer intelligenten Gesichter machten sie einen gröberen Eindruck als Ilja. Der eine
hatte ein schmutziges Gesicht, trug keine Socken und eine zu kurze Hose, die den Blick auf dürre Knöchel freigab. Der andere
schien der Anführer zu sein. Er trug eine abgeschnittene Jeans, die er vermutlich selbst gekürzt hatte.
»Ha’m Sie Zigaretten?«, fragte der selbstbewusstere von den beiden, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.
»Nein.« Wika kramte in ihrer Tasche nach den Äpfeln und bot sie ihnen an. Jeder nahm sich einen und steckte ihn sich in die
Tasche. Der ohne Socken hatte eine selbstgedrehte Zigarette in der Hand – ein Krümel Tabak, eingerollt in einen Fetzen Papier.
|97| »Sind Sie seine Mutter?«, fragte der Junge mit der abgeschnittenen Jeans.
»Nein.« Sie überlegte, wie sie ihre Beziehung zu Wanja erklären sollte. »Ich bin seine Patin.« Während sie sich unterhielten,
fütterte Wika Wanja mit kleinen Apfelstückchen, die er gedankenverloren kaute. Das Kauen schien eine weitere Fähigkeit zu
sein, die ihm abhandenzukommen drohte.
Sie fragte die drei Jungs, warum sie in der Anstalt waren. Der Selbstbewusste antwortete, dass er aus dem Kinderheim ausgerissen
und zur Strafe hierhergekommen war. Er plane, bald auch von hier abzuhauen.
»Und wovon willst du leben?«, fragte Wika.
»Ich hab ein Händchen dafür, an Geld zu kommen«, prahlte er.
Ilja erzählte ihr, dass er ebenfalls aus einem Kinderheim fortgelaufen war und Zuflucht bei einem Priester gefunden hatte.
Doch dann war er erwischt und hierhergebracht worden. Das lag nun bereits zwei Jahre zurück, und mittlerweile hatte er die
Hoffnung aufgegeben, je wieder von hier wegzukommen. Er zog einen Schnürsenkel unter seinem T-Shirt hervor, an dem ein Kreuz
befestigt war, und erzählte, dass er jeden Gottesdienst in der Krypta der Kirchenruine besuche und davon träume, Priester
zu werden.
Eigentlich galten alle Anstaltsinsassen als bildungsunfähig, doch bevor Ilja hierhergekommen war, hatte er lesen und schreiben
gelernt. Er ließ sich von Wika Stift und Papier geben, und während sich die anderen weiter unterhielten, schrieb er eine Nachricht
an seinen Priester, in der er ihn bat, ihn besuchen zu kommen. Er reichte Wika den Zettel mit der Bitte, ihn zu überbringen.
Alle Buchstaben darauf waren großgeschrieben, und zwischen den
Weitere Kostenlose Bücher