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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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was diese Frauen hier taten, war, das Geschenk teilnahmslos entgegenzunehmen.
    Sarah stieß die gepolsterte Tür nach draußen auf. Eine frische Frühlingsbrise empfing sie. Der Schnee war beinahe getaut und
     der Garten voller Matschpfützen. An den Ästen der Linden konnte man bereits winzige Triebe sehen, die bald zu Blättern werden
     würden. Nach den langen Wintermonaten erneuerte sich die Natur nun von selbst, und bald würde der Sommer kommen. Doch im Inneren
     dieses Hauses stand die Natur still. Für diese Kinder herrschte das ganze Jahr über Winter.
    Sarah war schon fast am Tor, da hörte sie hinter sich jemanden eilig durch die Pfützen stapfen. Sie war erstaunt, als sie
     erkannte, dass es Adela war, die ihr mit verrutschter Arzthaube und matschdurchtränkten Hausschuhen hinterherlief.
    »Sarah, Sarah. Ich muss mit Ihnen reden. Bitte kommen Sie zurück ins Haus.«
    Sie muss mir an ihrem Bürofenster aufgelauert und mich weggehen sehen haben, dachte Sarah. Was konnte sie nur wollen?
    Adela führte sie zurück ins Haus und in ihr Büro, dessen Tür sie hinter ihnen abschloss. In einer Ecke lag ein Stoß alter
     Kleider – nicht mehr als Lumpen. »Die Kleider sind für das Internat«, sagte Adela. »Die Kinder dort haben keine. Es ist das
     Internat, in dem Wanja ist. Ein schrecklicher Ort.«
    Adelas Geschichte wurde zunehmend wirrer, doch nach und nach kam alles ans Licht. Wanja war in Filimonki, einer Irrenanstalt
     für Erwachsene. Nachdem Swetlana ihn dort abgegeben und Adela von den Zuständen berichtet hatte, schämte sich Adela für das,
     was sie zugelassen hatte, und schickte daraufhin ihre Tochter nach Filimonki, damit sie sich dort umsah. Die Tochter war mit
     schockierenden Nachrichten zurückgekehrt: Wanja wurde nackt in einem Gitterbett gefangen gehalten. |87| Er litt entsetzlich und flehte sie an, ihn zurück ins Babyhaus zu bringen. Und es sollte noch schlimmer kommen.
    »Meine Tochter sprach dort mit einem Mädchen. Sie erzählte von Männern, die mit dem Bus gekommen waren. Sie bezahlten Geld
     … Sie haben das kleine Mädchen …« Sie brachte die Worte nicht über die Lippen, doch ihre Geste war unmissverständlich.
    »Sie wollen sagen, dass die Männer für Sex mit dem Mädchen bezahlt haben?«
    Adela nickte. Dann griff sie nach einem Stift und einem Stück Papier und begann, etwas aufzuschreiben. Als sie fertig war,
     drückte sie Sarah den Zettel in die Hand.
    »Hier steht die Adresse. Und was Sie tun müssen.«
    Sarah nickte nur stumm, als Adela die Tür aufschloss und sie hinausließ.
    Draußen faltete sie Adelas Notiz auseinander. »Pastuchow I. A. 15.03.90. Psycho-Neurologisches Internat Nr. 5, Filimonki.
     Bus Nr. 611 von der Metrostation Jugo-Sapadnaja, weiter mit Überlandbus Nr. 15«, stand dort.
    Dorthin hatten sie Wanja also gebracht. In eine Irrenanstalt, etliche Kilometer von hier entfernt. Ganz unten hatte Adela
     noch geschrieben: »Bringen Sie ihn ins Babyhaus 10 zurück.« Das war ihre Anweisung: Sarah sollte ihm nicht nur ein paar Kleider
     bringen, sie sollte ihn aus dieser Irrenanstalt für Erwachsene retten. Doch wie um alles in der Welt sollte sie, eine Ausländerin,
     das anstellen? Über welche übermenschlichen Kräfte, glaubte Adela, verfügte sie?
    »Hätte Adela mich darum gebeten, Wanja zu besuchen«, erinnert sich Sarah, »hätte ich mich sofort auf den Weg gemacht. Doch
     ihn aus dieser entlegenen Einrichtung herauszuholen, überstieg meine Vorstellungskraft. Ich konnte Besuche von Ärzten organisieren,
     Spenden für Operationen sammeln und Kontakte zwischen russischen Aktivisten und westlichen Spezialisten herstellen. Aber mich
     darum zu bitten, den Kampf gegen die Behörden aufzunehmen, war zu viel verlangt. Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte.
     Ich kam mir vor wie eine Figur |88| im Märchen, die von einer als freundliche alte Frau getarnten Hexe gezwungen wird, Übermenschliches zu vollbringen.
    Und so landete das Stück Papier mit den darauf gekritzelten Anweisungen auf meinem Schreibtisch und verschwand schon bald
     unter Zetteln mit realistischeren Anfragen.
    Es hätte so viel Leid und Schmerz verhindert werden können, hätte Adela die virtuelle Familie, die Wanja um sich versammelt
     hatte – Wika, Walentina und mich – gemeinsam mobilisiert, und wäre sie mit uns zusammen in den Kampf gegen die Bürokratie
     gezogen. Doch das tat sie nicht. Sie war eine sowjetische Funktionärin, gewohnt, Befehle von oben auszuführen, und nicht,
    

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