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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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Wörtern fehlten die Leerzeichen.
    Er brannte darauf, Wika vorzuführen, wie gut er lesen konnte, nahm
Die drei kleinen Schweinchen
und begann, laut vorzulesen, wobei er sich mit den längeren Wörtern abquälte, als folgten deren Buchstabenzusammensetzungen
     einem geheimen Code.
    |98| Die Betreuerin schaute zur Tür herein und teilte Wika mit, dass nun Schlafenszeit sei und Wanja zurück in sein Bett müsse.
    »Ich mache das«, versprach Ilja, und die Betreuerin schien ihm zu glauben. Ilja erklärte, dass die Betreuer die Jugendlichen
     für sie arbeiten ließen. Sie mussten sich um die bettlägerigen Kinder kümmern und die Drecksarbeit erledigen.
    Als sich Ilja zu Wanja hinabbeugte, um ihn hochzunehmen, legte Wika ihm eine Hand auf den Arm und fragte: »Könntest du ihn
     nicht ab und zu nach draußen bringen? Es täte ihm so gut, an die frische Luft zu kommen.«
    »Wir dürfen sie nicht mit nach draußen nehmen.«
    »Kannst du ihn dann ein wenig herumkrabbeln lassen? Er muss seine Beine trainieren.«
    »Sie dürfen nicht aus den Betten raus.«
    »Aber du kannst mit ihm reden.«
    »Ja, das kann ich tun.«
    Sie gab Wanja einen Kuss auf die Stirn und versprach ihm, bald wiederzukommen.
    Als sie in Richtung Tür lief, hörte sie eine leise Stimme, fast nur ein Flüstern, hinter sich: »Wika.« Wanja wollte ihr etwas
     sagen. Sie hatte Angst, er würde sie bitten, ihn mitzunehmen.
    »Grüß Tante Walentina und Adela von mir.«
     
    Völlig erschöpft kehrte Wika am Abend in die Wohnung ihrer Großmutter zurück. Die Ereignisse des Tages ließen sie nicht los,
     und in der Nacht fand sie keinen Schlaf. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, erschien ihr ein anderes Kind aus diesem Zimmer,
     in dem es kein normaler Mensch länger als eine Minute aushielt. Bei Einbruch der Dämmerung gab sie es auf und machte sich
     auf den Weg in die Kirche zur Morgenandacht. Nachdem sie das Halbdunkel der Kirche betreten hatte, ließ sie ein paar Rubel
     in die Spendenbüchse fallen, nahm sich eine lange, dünne Wachskerze, zündete sie an und steckte sie in das Sandkästchen, das
     vor dem Marienbildnis stand. »Für Wanja«, flüsterte sie und sprach ein Gebet.
    Während sie den vertrauten Harmonien des Chores lauschte, |99| den einzelnen Stimmen, die für ein paar Takte hervortraten, um sich anschließend wieder mit den anderen zu vereinen, wurde
     ihr klar, dass sie einen großen Fehler gemacht hatte. Sie hatte versucht, alles allein zu regeln. Ihre Arroganz hatte sie
     davon abgehalten, andere um Hilfe zu bitten.
    Nach dem Gottesdienst vertraute sich Wika dem Priester und den anderen Mitgliedern der Gemeinde an. Elena, eine Frau, die
     Wika bislang kaum wahrgenommen hatte, erzählte ihr, dass es außerhalb von Moskau, in einem Ort namens Dmitrow, das Kinderheim
     Nr. 19 gäbe, in dem Kinder mit infantiler Zerebralparese lebten und Unterricht erhielten. Wika fragte, was sie tun müsse,
     damit Wanja dort aufgenommen würde. Als Erstes müsse sie den Leiter des Kindertrakts von Filimonki um eine Kopie von Wanjas
     Diagnose bitten und diese nach Dmitrow bringen, lautete die Antwort.
    Am nächsten Tag meldete sich Wika erneut krank und machte sich ein weiteres Mal auf den langen Weg nach Filimonki, diesmal,
     um den Anstaltsleiter aufzusuchen und ihn um Wanjas Krankenakte sowie eine Änderung seiner Diagnose zu bitten. Während sie
     vor dessen Büro saß und darauf wartete, eintreten zu dürfen, spürte sie ihre Müdigkeit, und sie wünschte sich, etwas gefrühstückt
     zu haben. Auf der anderen Seite des Raums schlürfte die Sekretärin laut ihren Tee. In der Hoffnung, dadurch älter als ihre
     vierundzwanzig Jahre zu wirken, trug Wika das Kostüm, das sie sonst zur Arbeit trug, und hatte sich die Haare zurückgebunden.
    »Wassili Iwanowitsch lässt nun bitten.« Die Sekretärin öffnete die Tür zum Büro des Anstaltsleiters, hinter der sich eine
     zweite, dick gepolsterte und mit schwarzem Leder bespannte Tür befand. Wika öffnete die schwarze Tür und trat ein.
    Der Leiter saß hinter einem gewaltigen Schreibtisch. Darauf standen drei Telefone in verschiedenen Beige- und Grautönen, direkt
     neben ihm ein rotes. Rechtwinklig zum Schreibtisch erstreckte sich zur Raummitte hin ein Tisch mit Stühlen, doch der Mann
     bat Wika nicht, sich zu setzen, sondern widmete sich weiter dem Stoß Papieren, der vor ihm lag. Dann blickte |100| er kurz auf. Sein Gesicht war fleischig. Sein beleibter Körper steckte in einem grauen Anzug. Er

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