Wolkengaenger
wandte sich wieder seinen
Schriftstücken zu und begann, eines nach dem anderen mit einer schwungvollen Bewegung zu unterschreiben. Als er fertig war,
griff er zum Hörer des roten Telefons und bellte seine Sekretärin im Vorzimmer an, sie solle ja nicht vergessen, dem Fahrer
zu sagen, dass die Papiere binnen einer Stunde im Ministerium zu sein hätten. Nachdem er aufgelegt hatte, wandte er sich Wika
zu.
»Nun, junges Fräulein, was führt Sie zu mir?«, fragte er in herablassendem Ton. Wika stand noch immer vor seinem Schreibtisch
und wartete darauf, Platz nehmen zu dürfen. Sie atmete tief durch und sagte dann, sie sei gekommen, um mit ihm über einen
Jungen zu sprechen, der sich in seiner Obhut befand; ein Junge aus dem Kindertrakt im fünften Stock.
Die Erwähnung des Kindertrakts nahm der Leiter zum Anlass, Wika davon zu berichten, wie viel Ärger ihm allein dessen Einrichtung
beschert hatte. Und alles nur, weil die Kinderheime voll waren. Das Ministerium war an ihn herangetreten und hatte ihn bekniet,
Platz bereitzustellen. Das Ganze hatte ihm große Unannehmlichkeiten bereitet – ganz auf die Schnelle hatte er neues Personal
finden müssen –, aber er hatte es geschafft.
Wika wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, und fuhr daher mit ihrem Anliegen fort. »Der Junge heißt Wanja, Wanja Pastuchow.
Er ist bei den Kindern, die den ganzen Tag im Bett verbringen. Doch das ist ein schrecklicher Fehler. Er gehört nicht dort
hin. Er ist intelligent und kann sprechen. Er benötigt Unterricht und Hilfe, um laufen zu lernen.«
»Unsinn«, erhielt sie zur Antwort. »Alle Kinder, die hierhergeschickt werden, wurden von der Kommission für bildungsunfähig
erklärt. Mit anderen Worten, sie sind schwachsinnig und unheilbar – alles, was sie brauchen, ist Versorgung. Und die bekommen
sie von uns. Wir füttern sie, und wir halten sie sauber, dessen kann ich Sie versichern.«
Seine Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Wika mobilisierte all ihre Kräfte, um fortzufahren:
|101| »Aber Sie werden feststellen, Wassili Iwanowitsch, dass sich die Kommission bei Wanja geirrt hat. Ich bin gekommen, Sie um
seine Krankenakte zu bitten, damit er nach Dmitrow ins Kinderheim Nr. 19 überwiesen werden kann, wo man ihn unterrichten wird.«
Der Leiter erkannte, dass sich Wika nicht so einfach abwimmeln lassen würde, und befahl seiner Sekretärin, ihm Wanjas Akte
zu bringen. Während sie warteten, sagte er, dass ihm das Kinderheim in Dmitrow vollkommen unbekannt sei und er ganz sicher
noch nie jemanden dorthin überwiesen habe.
Nachdem ihm die Akte gebracht worden war, überflog er deren Inhalt und verkündete dann triumphierend: »Na, sehen Sie. Hier
haben wir die Diagnose, und sie wurde erst vor Kurzem gestellt. Oligophrenie infolge ausgeprägten Kretinismus. Praktisch ein
Schwachsinniger. Wie ich es gesagt habe.« Er sah sie herablassend an. »Laienhaft ausgedrückt, junges Fräulein, bedeutet das,
dass er nicht fähig ist, zu lernen.«
Ohne weiter auf eine Aufforderung zu warten, nahm sich Wika einen Stuhl und setzte sich. Sie musste einen letzten Versuch
wagen, zu diesem Mann durchzudringen. »Ich kenne Wanja. Ich habe ihn zwei Jahre lang jede Woche im Babyhaus besucht. Er lernt
schnell. Er kennt Lieder und Kinderreime. Dass die Kommission zu dieser Diagnose gekommen ist, liegt einzig daran, dass er
in einem Zimmer untergebracht war, in dem außer ihm kein Kind sprechen konnte.«
»Dann glauben Sie also, es besser zu wissen als unsere Spezialisten?«
Sie fuhr fort. »Er darf nicht vierundzwanzig Stunden am Tag in einem Bett eingesperrt sein. Er braucht Anregung. Er muss leben.«
Der Mann im grauen Anzug war sichtlich verärgert. Er stieß seinen Stuhl zurück und sagte: »Ich werde mir den Jungen selbst
ansehen. Mal sehen, ob ich Ihrer Diagnose zustimme.«
Nach zehn Minuten kehrte er zurück, setzte sich wieder |102| hinter seinen Schreibtisch und zückte einen Stift. Er schien sich beruhigt zu haben. »Ich habe ihn mir angesehen. Sie kriegen
Ihr Schreiben.«
»Oh, danke, vielen Dank, Wassili Iwanowitsch.« Er begann zu schreiben. »Und Sie ändern seine Diagnose, verbessern sie, so
dass er zur Schule gehen kann, ja? Man wird ihn nicht aufnehmen, wenn Ihre Diagnose ›schwachsinnig‹ lautet.«
Der Anstaltsleiter hörte auf zu schreiben und starrte sie feindselig an. »Ich werde seine Diagnose ganz bestimmt
nicht
ändern. Er ist nicht nur schwachsinnig, sondern
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