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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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»Wird ihn wirklich jemand wollen? Wird
     ihn jemand zu sich nehmen und ihm ein gutes Leben schenken? Es gibt nichts auf der Welt, was ich mir mehr wünsche.«
    Eine Stunde später saßen sie im Büro des Anstaltsleiters von Filimonki – dort, wo Wika vor gerade einmal zwei Wochen so gedemütigt
     worden war. Zu Wikas Überraschung begrüßte sie der Mann, dessen Gesicht infolge ihrer Unverschämtheiten vor Wut rot angelaufen
     war, diesmal mit einem Lächeln. Schnell verstand sie, warum sich seine Haltung verändert |114| hatte: Er hatte ein verwundbareres Ziel für seine Attacken gefunden.
    Er wandte sich an Natascha. »Also, was wollen Sie von mir?«
    »Ich bin hier, um meinem Sohn zu helfen«, antwortete sie mit kaum hörbarer Stimme.
    »Dafür dürfte es ein wenig spät sein«, schnaubte der Mann.
    »Bitte, ich möchte, dass er die nötigen Behandlungen erhält und adoptiert wird.« Verängstigt sah sie zu Wika hinüber.
    »Haben Sie ihn denn gesehen? Wissen Sie, in welcher Verfassung er ist?«, fragte der Leiter.
    »N-n-nein.« Natascha wurde ganz blass.
    »Na, dann schauen wir ihn uns doch mal an.« Er griff zum Hörer des roten Telefons und bellte: »Bringen Sie Pastuchow zu mir.«
    Ein paar Minuten später betrat eine Frau im weißen Kittel das Büro. Sie hatte Wanja auf dem Arm, der bleich war wie ein Gespenst
     und dessen Blicke aufgrund der fremden Umgebung und der unbekannten Menschen wild hin und her jagten. Er war derart verängstigt,
     dass er noch nicht einmal Wika erkannte. Die Betreuerin ging in die Mitte des Raumes und blieb dort stehen.
    »Drehen Sie ihn um«, befahl der Leiter. Wie ein Bauer, der ein Tier auf dem Markt anpreist, drehte die Betreuerin Wanja um.
     Doch im Unterschied zu einem Viehhändler bestand ihre Aufgabe darin, den Jungen von seiner schlechtesten Seite zu präsentieren.
     »Schauen Sie ihn sich gut an. So sieht er aus, Ihr Sohn.«
    »Natascha war genauso traumatisiert wie Wanja«, erinnert sich Wika. »Sie saß einfach nur da und starrte ihn an. Der Mann von
     der Adoptionsagentur, der zwischen uns saß, blickte zwischen Natascha und mir hin und her. Ich musste dieser Demütigung ein
     Ende setzen. Ich sprang auf und lief zu Wanja, versuchte, ihm seine Befangenheit zu nehmen und ihn zum Sprechen zu ermuntern.
     Doch er sagte kein Wort. Was ich auch tat, er gab auf keine Frage, die der Leiter ihm |115| stellte, eine Antwort. Das System hatte die Prophezeiungen der Ärzte, die sie Wanja sechs Jahre zuvor gemacht hatten, wahr
     werden lassen.«
    Niemand kam auf die Idee, Wanja zu sagen, dass seine Mutter anwesend war und dass sie sich, trotz all der Fehler, die sie
     gemacht hatte, noch immer um ihn sorgte und jeden Tag an ihn dachte. Was Natascha selbst betraf, so war sie viel zu eingeschüchtert
     und gelähmt, um sich zu erkennen zu geben.
    Wanja wurde zurück in den Kindertrakt gebracht, zurück in sein Gitterbett, und Natascha setzte nun doch den Brief auf, wie
     es das Gesetz vorschrieb. Dem Diktat des Anstaltsleiters folgend, schrieb sie jene Worte – »Ich, Natascha Iwanowna Pastuchowa,
     gebe die elterlichen Rechte an meinem Sohn auf« –, die sie sich sechs Jahre zuvor in der Entbindungsklinik so tapfer geweigert
     hatte zu schreiben. Im Rückblick wird Wika klar, dass das von den Kommunisten so gering geschätzte Band zwischen Mutter und
     Sohn bereits zerrissen war, lange bevor Natascha mit diesem Brief die Rechte an ihrem Sohn aufgab. Das erniedrigende Martyrium
     im Büro des Anstaltsleiters war die letzte Begegnung zwischen Mutter und Kind.
    Zurück im Auto, sagte der Mann von der Adoptionsagentur, dass er Natascha nicht bis nach Hause fahren könne und sie deshalb
     an der U-Bahn absetzen würde. Beim Aussteigen rutschte Natascha der Ausweis aus dem zerrissenen Innenfutter ihrer Lederjacke
     und fiel in den Rinnstein. Wika bemerkte es und gab ihn ihr zurück. Natascha schob ihn in die gleiche Tasche zurück, dann
     verschwand ihre zerbrechlich wirkende Gestalt in der wuselnden Menge.

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    |116| 8.
DIE RATTE
    April bis Juni 1996
    Schläfrig von dem starken Beruhigungsmittel, das man ihm verabreicht hatte, lag Wanja in seinem mit Eisenstäben vergitterten
     Bett. Nach den vielen Ausflügen in den braun gekachelten Raum hatte er sich inzwischen an dieses matte Gefühl gewöhnt. Das
     erste Mal war er dorthin gebracht worden, nachdem ihm eine Betreuerin ein Fläschchen in den Mund hatte stecken wollen. Empört
     hatte er den Kopf zur Seite gedreht und

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