Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
Vom Netzwerk:
ihn. Und fahren Sie ohne mich.«
    Wika ermahnte sie, dass dies hier Wanjas einzige Chance sei und dass sie mitkommen müsse.
    Kaum war Natascha eingestiegen, da brach sie in Tränen aus. Sie erzählte Wika ihre ganze Geschichte. »Es war, als würde sie
     eine Beichte ablegen«, sagt Wika. Natascha hatte bereits zwei Kinder gehabt, als sie mit Wanja schwanger wurde. Das erste,
     Wadim, hatte sie mit gerade einmal achtzehn Jahren bekommen, als sie mit ihrem ersten Mann verheiratet gewesen war. Doch sie
     war zu jung für die Mutterrolle, daher kümmerte sich Nataschas Mutter um den Jungen. Vier Jahre später wurde, nachdem sie
     ihren zweiten Mann Anatoli kennengelernt hatte, ihre Tochter Olga geboren. Diesmal war sie eine viel bessere Mutter. Doch
     dann geschah etwas Furchtbares. Innerhalb von einem Monat starben zunächst ihr Vater und dann ihre Mutter. Damit verlor Natascha
     jegliche Unterstützung. Ihr Exmann nahm Wadim zu sich, und Olga kam in ein Kinderheim.
    |112| Dann stellte Natascha fest, dass sie erneut schwanger war. Zusammen mit Anatoli zog sie zurück in die Wohnung ihrer Eltern.
     Beide gaben das Trinken auf und waren fest entschlossen, noch einmal von vorn anzufangen. Doch ohne ihre Mutter tat sich Natascha
     schwer. Sie vermisste sie sehr.
    Natascha erzählte, dass sie während der Schwangerschaft nicht ausreichend auf sich geachtet habe und dass es ihre Schuld sei,
     dass Wanja eine Frühgeburt war. Mit gerade einmal sechs Monaten und etwas mehr als zwei Pfund kam er auf die Welt. Es grenzte
     an ein Wunder, dass er überhaupt überlebte. In der Entbindungsklinik teilte man ihr mit, dass die meisten Frühchen an infantiler
     Zerebralparese litten und er eine große Belastung für sie und ihre Familie darstellen würde. Sie übten Druck auf Natascha
     aus, drängten sie, ihre elterlichen Rechte aufzugeben und Wanja in die Obhut des Staates zu übergeben. Sie begannen sogar
     bereits, ihr den Brief zu diktieren, den sie dafür schreiben musste. Doch sie hatte sich geweigert, ihr Baby aufzugeben.
    Einfach war es allerdings nicht gewesen. Seit seiner Geburt musste Wanja ständig ins Krankenhaus. Er bekam eine Lungenentzündung,
     die er nur knapp überlebte. Natascha besuchte ihn so oft wie möglich. Doch Olga durfte nicht mit ins Krankenhaus, und ihr
     Mann musste arbeiten. Irgendwann hatten die Nachbarn genug davon, ständig auf Olga aufzupassen. Alles wäre so viel leichter
     gewesen, wenn ihre Mutter noch gelebt hätte.
    Die Ärzte teilten Natascha mit, dass ihr Sohn niemals laufen oder sprechen lernen würde. Als Wanja trotzdem Fortschritte machte,
     weigerten sich die Ärzte, diese anzuerkennen. Natascha übte unermüdlich mit ihm und brachte ihm bei, zu stehen. Doch die Ärzte
     rieten ihr weiterhin, ihn wegzugeben.
    »Er war ein so hübscher Lockenkopf. Jede Woche habe ich ihn zur Massage gebracht. Einmal sagte die Masseurin etwas Nettes
     über ihn: ›Was für breite Schultern er hat. Ein richtiger Mann.‹ Aus dieser Bemerkung schöpfte ich monatelang Kraft. |113| Doch dann brachte ich ihn in ein Krankenhaus, und eine Pflegerin sagte zu mir: ›Sie haben weiß Gott was zur Welt gebracht,
     und jetzt sollen wir ihn gesund machen. Warum bringen Sie ihn hierher?‹«
    In Nataschas Worten schwang so viel Schmerz mit, dass man ihr selbst nach all den Jahren noch anmerkte, wie sehr sie die Wunde
     in ihrem Herzen quälte.
    »Nach diesem Vorfall verfiel ich in eine tiefe Depression. Und die Nachbarn waren auch keine Hilfe. Sie sagten mir, ich solle
     ihn in ein Babyhaus bringen. Wenn ich doch nur nicht so schwach gewesen wäre. Ich fing wieder an zu trinken. Sein ganzer Zustand
     ist meine Schuld. Er schielt, und auch daran bin ich schuld. Ich habe ihm das Fläschchen nicht richtig gegeben.«
    Wika erklärte ihr, dass Schielen ganz andere Ursachen habe und Natascha sich deshalb keine Vorwürfe machen solle. Aber sie
     hörte gar nicht zu und fuhr fort. All die schlimmen Erinnerungen, die sie mit Hilfe des Alkohols versucht hatte auszulöschen,
     sprudelten nur so aus ihr heraus. Sie gestand Wika, dass sie Olga einmal mit Wanja allein gelassen hatte und er vom Sofa gefallen
     war.
    Wika versuchte sie zu beruhigen, überall fielen mal Kinder von Sofas, doch Natascha ignorierte sie und bestand darauf, dass
     sie allein die Schuld daran trug und Olga noch viel zu klein gewesen sei, um auf ihren Bruder aufzupassen.
    Nach minutenlangem Schluchzen wandte sie sich schließlich wieder Wika zu und fragte:

Weitere Kostenlose Bücher