Wolkengaenger
gemacht hatte, über alles und jeden im Ort Bescheid zu wissen. »Wen
suchen Sie denn da oben?«
|107| »Natascha Pastuchowa«, sagte Wika. Die Frau machte große Augen.
»Natascha Pastuchowa – die werden Sie dort nicht finden. Sie hat die Wohnung vermietet. Ich hab sie schon seit Monaten nicht
mehr gesehen.«
Wika und der Fahrer fuhren ein weiteres Mal die holprige Hauptstraße hinunter und bogen dann in die steile bergan führende
Straße zur Siedlung ein. Oben auf dem Hügel stand eine Gruppe von vier kleinen Wohnblocks aus weißen Mauersteinen. Beim Aussteigen
sagte der Fahrer zu Wika: »Ich bin hier, falls Sie mich brauchen.«
Nur einer der Wohnblocks hatte drei Stockwerke, und Wika lief vorbei an Birken und einem Kinderspielplatz auf den Eingang
zu. Der bärtige Mann, der sie fuhr, arbeitete für eine amerikanische Adoptionsagentur. Er hatte Wika erklärt, dass es nur
einen einzigen Menschen gäbe, der Wanja aus der Anstalt retten könnte, und das war seine leibliche Mutter. Dank seiner Position
in der Agentur hatte der Mann Nataschas Adresse herausgefunden, und als Wika ihm gesagt hatte, dass sie niemanden hätte, der
sie begleitete, hatte er eingewilligt, sie zu fahren. Nun lag es an Wika, Natascha davon zu überzeugen, um ihres Sohnes willen
etwas Furchtbares zu tun.
Vor Nataschas Wohnungstür angekommen, klingelte Wika. Sie war sich nicht sicher, ob die Klingel auch funktionierte, und horchte
an der Tür. Dahinter war es vollkommen still. Sie klingelte noch einmal. Diesmal hörte sie drinnen etwas rascheln und kurz
darauf eine Frauenstimme fragen: »Wer ist da?«
»Mein Name ist Wika. Sind Sie Natascha, Natascha Pastuchowa?«
Schweigen. Dann sagte die Frau hinter der Tür: »Ja, die bin ich. Was wollen Sie?«
»Ich komme wegen ihres Sohnes, Wanja.«
Die Tür wurde aufgeschlossen, und dahinter kam eine zarte Frau mit braunen Locken zum Vorschein. Sie trug ein ausgeblichenes
Hauskleid und Pantoffeln und gab Wika zu verstehen, |108| dass sie ihr ins Wohnzimmer folgen solle. Die Einrichtung des Raumes beschränkte sich auf einen kaputten Sessel, einen Couchtisch
voller Glasränder, einen auf einem Küchenstuhl platzierten Fernseher und ein mit Brandlöchern übersätes Sofa, an dessen Ende
eine zusammengefaltete Decke und ein Kissen lagen.
Natascha setzte sich auf die Sesselkante, und Wika nahm auf dem Sofa Platz. Sie hatte die gleichen braungelockten Haare wie
Wanja und seinen Mund. Die Wohnung war sauber, wirkte jedoch unbewohnt.
»Geht es Wanja gut? Er ist doch nicht tot, oder?«, fragte Natascha mit leiser Stimme.
»Nein, aber er braucht Ihre Hilfe.«
Wika erzählte, wie sie Wanja im Babyhaus kennengelernt hatte, wo er das Personal bezaubert und einem anderen kleinen Jungen
das Sprechen beigebracht hatte. Doch trotz seiner offenkundigen Intelligenz und seiner Auffassungsgabe sei Wanja als bildungsunfähig
eingestuft und in eine Anstalt überwiesen worden, wo er nun den ganzen Tag in einem Gitterbett verbringen müsse. Es gehe stetig
mit ihm bergab. Natascha sagte zu alldem kein Wort, hing jedoch an Wikas Lippen.
Wika berichtete weiter, dass sie einen Herrn von einer amerikanischen Adoptionsagentur kennengelernt habe. »Er scheint mir
ein netter Mann zu sein. Er sagt, er will dafür sorgen, dass Wanja an den Beinen operiert und seine Diagnose geändert wird.
Anschließend wird er im Ausland Adoptiveltern für ihn suchen. Das ist Wanjas einzige Chance.«
Wika schaute Natascha nun direkt in die Augen und sagte: »Doch nichts davon ist möglich, wenn Sie nicht Ihre elterlichen Rechte
aufgeben. Werden Sie das für Wanja tun?«
In schmerzliche Erinnerungen versunken, blieb Natascha zunächst stumm. Wika fuhr fort: »Werden Sie das für Ihren Sohn tun?
Werden Sie Ihre elterlichen Rechte um Wanjas willen aufgeben?«
»Helfe ich ihm damit auch wirklich?«
»Ja. Es gibt keinen anderen Weg.«
|109| »Gut. Ich tue es um seinetwillen.«
Bis heute denkt Wika ungläubig an dieses Gespräch zurück. »Damals war mir überhaupt nicht bewusst, wie grotesk unsere Unterhaltung
war. Ich war vollkommen darauf konzentriert, Natascha davon zu überzeugen, ihre elterlichen Rechte aufzugeben. Wenn ich heute
zurückblicke, erkenne ich erst, wie grausam dieses System war. Im Moment seiner größten Not bestand die Aufgabe seiner leiblichen
Mutter einzig darin, Wanja mit ihrer Unterschrift aufzugeben.«
Das war die absurde und abscheuliche Logik des russischen
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