Wolkengaenger
erklärt: »Ich bin zu alt für ein Fläschchen. Ich esse am Tisch!« Sekunden später war
er gepackt, aus seinem Gitterbett gehoben und in einen anderen Raum gebracht worden, wo man ihn bäuchlings auf eine Bank gelegt
hatte. Kurz darauf hatte er einen stechenden Schmerz im Po gespürt. Dann verfrachtete man ihn zurück in sein Zimmer. Aber
zu essen war ihm gar nichts mehr gebracht worden – nicht einmal das Fläschchen.
Heute war er selbst zu müde, um nach dem Töpfchen zu fragen. Obwohl seine Bitte stets ignoriert wurde, gab er nicht auf, danach
zu fragen. Er hasste es, wie die anderen Kinder auf die Plastikmatratze zu pinkeln, doch er hatte keine andere Wahl. Zunächst
war es warm, wenn die Flüssigkeit eine Pfütze auf der Matratze bildete, doch dann wurde es kalt, und er sehnte jemanden herbei,
der alles trockenwischte, was meist den halben Tag dauerte. Beschämt dachte er an Tante Walentina, die ihm beigebracht hatte,
aufs Töpfchen zu gehen, und die ihn zur Strafe nicht mehr geküsst hatte, wenn er es mal nicht mehr bis dorthin geschafft hatte.
In seinem betäubten Zustand hörte er ein Kratzen. Es klang wie die Ratten, die nachts im Zimmer umherrannten. Er bot |117| seine ganze Kraft auf, um den Kopf zu heben. Da, am Ende seiner Matratze, saß ein riesiger Nager und starrte ihn aus großen
Augen an. Wanja wollte sich aufsetzen und schreien, doch die Medikamente hatten ihn zu sehr geschwächt und seine Zunge gelähmt.
Er versuchte nach der Ratte zu treten, doch seine Beine reagierten nicht. Als handele es sich um ihr eigenes Bett, thronte
die Ratte am Fußende und schien über seine Bewegungsunfähigkeit zu spotten. Sie ließ sich nach vorn auf alle vier Pfoten fallen
und trippelte am Rand der Matratze entlang auf seinen Kopf zu. Wanja ängstigte sich zu Tode. Die Ratte wollte sein Gesicht.
Sie würde ihn beißen, und er konnte nichts dagegen tun. Er kniff die Augen fest zusammen und konnte spüren, wie das Tier an
ihm vorbeiflitzte. Dann huschte sie an einem Bein des Gitterbetts hinab und auf den Boden.
Wieder gab er der Wirkung der Medikamente nach. Alles, was er wollte, war einfach nur daliegen. Er versuchte nicht länger,
seine Arme und Beine zu bewegen. Die Augen hielt er geschlossen. Die Zeit verging, wie viele Stunden es waren, wusste er nicht.
Plötzlich krachte etwas Schweres auf seinen Brustkorb, und er rang nach Luft. Er riss die Augen auf und erkannte Slawa, den
Jungen, der normalerweise fest verschnürt in dem Gitterbett neben ihm lag. Irgendwie war es ihm gelungen, sich aus seinen
Fesseln zu befreien und von seinem Bett in Wanjas hinüberzuklettern, wo er sich dann auf ihn geworfen hatte. Nun wippte er
auf Wanjas Brust auf und ab. Wanjas Beine waren zu schwach, um den Jungen zu treten, doch er mobilisierte alles, was sein
kleiner Körper an Kraft aufbringen konnte, und versuchte, ihn von sich runterzuziehen. Da packte Slawa Wanjas Arm und biss
zu. Wanja schrie auf. Slawas Kiefer steuerte nun Wanjas Kopf an, und schon hatte er sich in eines seiner Ohren verbissen.
Mit beiden Armen zerrte Wanja an seinem Angreifer, wobei ihn die Wunden an Ohr und Arm schrecklich schmerzten.
Slawa schien über die gesammelten Kräfte aller Dämonen zu verfügen, die in seinem Kopf ihr Unwesen trieben. Wanja |118| bekam kaum mehr Luft, und gerade, als er dachte, keine Sekunde länger Widerstand leisten zu können, wurde das erdrückende
Gewicht von seiner Brust genommen. Endlich konnte er wieder frei atmen. Sein Ohr wurde aus Slawas Zähnen befreit, und er hörte
eine Männerstimme sagen: »Schluss jetzt. Lass los.« Starke Finger lösten nun auch Slawas Umklammerung, in der sich noch immer
Wanjas Arm befand. Sein Kopf plumpste zurück auf die harte Plastikmatratze, und er sah, wie Slawa wild um sich schlagend weggetragen
und in sein Gitterbett gelegt wurde. Der junge Mann, der den Kampf beendet hatte, kehrte zu Wanja zurück und schaute sich
sein angebissenes Ohr und den Arm an.
»Das säubern wir besser«, sagte er und hob ihn aus dem Bett. Unverwandt starrte Wanja den jungen Mann mit den zerzausten rotblonden
Haaren und den Sommersprossen an. Um seinen Hals hing an einem Schnürsenkel ein Kreuz. Wanja hatte noch nie zuvor einen Teenager
gesehen und konnte seinen Retter, der halb Junge, halb Mann zu sein schien, gar nicht genug bewundern.
Während der junge Mann mit langen Schritten den Flur entlanglief, entspannte sich Wanja in dessen Arm. War das
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