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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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leibliche Mutter.« Sie hatte dem Jungen eine Hand auf die Schulter
     gelegt. Sie beschützte ihn. Die dunkelhaarige Frau sah nun traurig aus und verließ das Zimmer.
    |121| Wanja sah, dass Ilja von dem, was auf dem Bildschirm geschah, schwer ergriffen war. Er zitterte und konnte nicht sprechen.
     Wanjas Blick wanderte zurück zum Fernseher, und er versuchte, der Geschichte zu folgen.
    Der Junge mit den gekämmten Haaren wurde nun einem Mädchen vorgestellt, das etwas älter war als er. »Brandon, das ist deine
     Schwester«, sagte die neue Mutter, und der Junge sagte: »Ich habe mir immer eine Schwester gewünscht.« Die Mutter, der Junge
     und das Mädchen fielen einander in die Arme. »Jetzt wird uns nie wieder etwas trennen«, sagten sie.
    Damit endete die Sendung, und Ilja schaltete den Fernseher aus. Er versuchte es zu verbergen, doch Wanja konnte sehen, dass
     er weinte. Als er sich beruhigt hatte, wandte er sich Wanja zu und sagte: »Das ist Amerika. Dort geben Mütter ihre Kinder
     nicht auf. Sie kämpfen darum, sich um ihre Kinder kümmern zu dürfen.«
    Wanja verstand nicht, was Ilja ihm da sagte. Was war denn nur dieses Amerika?, fragte er sich.
     
    Die Kinder in Wanjas Zimmer waren ungewöhnlich lebhaft. Der Grund dafür war ganz einfach, auch wenn Wanja ihn nicht wissen
     konnte: Die Beruhigungsmittel waren ausgegangen. Jene Kinder, die sitzen oder knien konnten, schaukelten hin und her und schlugen
     ihre Köpfe gegen die Eisenstäbe ihrer Gitterbetten. Die anderen lagen auf ihren Matratzen und winselten jämmerlich. Eine einzelne
     überforderte Betreuerin war für alle Kinder im Raum verantwortlich. Die Fenster waren abgedunkelt, doch ab und zu blitzte
     die Sonne durch die Fensterläden und malte helle Streifen auf den Boden. Fliegen schwirrten umher und ließen sich auf den
     mit Exkrementen verschmutzten Matratzen, auf den nackten Gesäßen und an den Augen der Kinder nieder.
    Etliche Male hatte Wanja bereits versucht, mit den Kindern in den Gitterbetten rechts und links von ihm Kontakt aufzunehmen.
     Das kleine blonde Mädchen, das sie Iwanowa nannten, versuchte nie, sich hinzusetzen, und machte den ganzen |122| Tag nur eine einzige Bewegung: Sie drehte den Kopf hin und her. Ihr Körper war vollkommen versteift und ihre Beinmuskulatur
     derart verkürzt, dass sie ihre Knie stets gebeugt halten musste. Sie hatte ihr Gesicht von ihm abgewandt, und Wanja konnte
     die kahle Stelle an ihrem Hinterkopf sehen – das Resultat des ständigen Scheuerns über die Matratze. Sie sprach kein einziges
     Wort, und im Laufe der vergangenen Tage hatte Wanja bemerkt, dass sie immer seltener wimmerte und nun vollkommen verstummt
     war. Die Chance, je von ihr angelächelt zu werden, war damit dahin. Sie bekam nach wie vor drei Mal am Tag ein Fläschchen,
     doch ihr schien der Wille abhandengekommen zu sein, daran zu saugen. Wanja konnte beobachten, wie die Betreuerinnen sich immer
     weniger damit aufhielten, sie zum Trinken zu animieren.
    Auf der anderen Seite lag Slawa. Seine starken Arme waren mit einem Stück Stoff an seinen Körper gebunden, das am Rücken zusammengeknotet
     und von dort an einem der Eisenstäbe seines Gitterbetts befestigt war. Dadurch war es ihm nicht einmal möglich, sich frei
     in seinem Bett zu bewegen, und sein Bewegungsradius war auf ein heftiges Vorwärts- und Rückwärtsschaukeln reduziert. Ohne
     Hoffnung auf eine Antwort rief Wanja dennoch seinen Namen und lächelte ihm unermüdlich zu, auch wenn Slawa bislang kein einziges
     Mal reagiert hatte. Im Gegensatz zu Wanja schien ihm der Kontakt zu anderen Menschen nichts zu bedeuten. Tatsächlich gab es
     keinerlei Anzeichen, dass er seinen Nachbar selbst nach all der Zeit erkannte.
    Slawa hatte einen Bluterguss an der Stirn, der sich gerade von rot nach violett verfärbte. Vermutlich hatte er ihn sich beim
     Schleudern des Kopfes gegen die Gitterstäbe zugezogen. Wanja hatte noch nie zuvor eine so große Beule gesehen und starrte
     sie fasziniert an. Er dachte daran, wie Slawa ihn überfallen und ihn in Arm und Ohr gebissen hatte, und an den glücklichen
     Moment, als der junge Mann seine Wunden versorgt und das brennende, grüne Zeug daraufgetan hatte. Er fragte sich, ob Ilja
     heute arbeiten würde. Wenn ja, würde er ihn |123| zu sich rufen und ihn bitten, Slawa das grüne Zeug auf die Stirn zu tupfen. Und dann könnte Wanja ein Gespräch mit Ilja anfangen
     und sich mit ihm über andere Dinge unterhalten, denn Slawa sprach kein

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