Wolkengaenger
Kinderfürsorgesystems – ein Erbe der unter dem kommunistischen Regime
üblichen Abwertung der Kleinfamilie. Kinder, die nie zu körperlich leistungsfähigen Arbeitern heranwachsen würden, wurden
in die Obhut des Staates gegeben – was einem Wegstecken gleichkam, ohne Kontakt zu ihren Familien und ohne Zugang zu Bildung
oder ärztlicher Behandlung.
Mit dem Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus tat sich für diese Kinder nun eine Lücke auf, durch die es einigen Privilegierten
möglich wurde, ins Ausland zu entschlüpfen. Bestand die Aussicht, ein Kind zu »exportieren«, und war dies mit einem Gewinn
für die ausländische Adoptionsagentur verbunden, ließ man dem Kind mit einem Mal medizinische Versorgung angedeihen, die es
unter anderen Umständen nie erhalten hätte. Nun taten russische Ärzte ihr Bestes, um die beschädigte Ware in ein exporttaugliches
Qualitätserzeugnis zu verwandeln. Die Rolle der Mutter beschränkte sich bei all dem darauf, ihre Rechte aufzugeben und damit
die Adoptionsmaschinerie in Gang zu setzen.
Natascha verstand die verdrehte Logik der Situation. Eltern, die sich dafür entschieden, ihr behindertes Kind bei sich zu
Hause zu behalten, erhielten keinerlei Unterstützung von Seiten des russischen Sozialsystems. Wanjas Zukunft lag im Ausland.
Und es war ihre Pflicht, ihm zu helfen. Das sah sie ein. Doch auf das, was Wika als Nächstes von ihr verlangte, war sie nicht
vorbereitet. Die Forderung zerrte all die Schuldgefühle ihrem Sohn gegenüber ans Tageslicht.
|110| »Ich tue es um Wanjas willen«, wiederholte Natascha. »Ich werde gleich einen Brief an die Behörden schreiben.« Sie blickte
sich in dem kahlen Zimmer um. »Nur habe ich kein schönes Papier, auf das ich schreiben könnte.«
»Sie verstehen nicht. Sie müssen mit in die Anstalt kommen und die Erklärung direkt vor dem Leiter abgeben.«
»Kann ich sie nicht hier schreiben, und Sie geben sie ihm?«
»Nein, es muss den offiziellen Weg gehen. Sie müssen Ihren Ausweis vorlegen.«
»Aber nicht heute.«
»Aber draußen wartet extra ein Wagen. Ich habe ihn nur heute. Die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist sehr umständlich.«
»Es gibt noch ein anderes Problem. Mein Ausweis ist nicht hier. Ich habe ihn einer Freundin zur Aufbewahrung gegeben.«
»Nun, dann lassen Sie uns losfahren und ihre Freundin suchen gehen.«
Natascha wurde klar, dass jede weitere Diskussion zwecklos war, und verschwand im Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Obwohl
sie nachgegeben und eingewilligt hatte, mit nach Filimonki zu kommen, machte sich Wika nach wie vor Sorgen, dass sie es sich
anders überlegen könnte.
Als sie kurze Zeit später ins Wohnzimmer zurückkam, waren Nataschas Haare frisiert, und sie trug einen schwarzen Rock und
eine abgetragene Lederjacke, die einst teuer gewesen sein musste. Die beiden Frauen gingen zum Wagen und fuhren den Hügel
hinab in den nächsten Ort, wo sie vor einem kleinen Mehrfamilienhaus hielten. Hier wohnte Nataschas Freundin, Mama Wina. Wika
fragte sich, wer diese Frau wohl war – offensichtlich eine Respektsperson, wenn man ihr den eigenen Ausweis anvertraute.
Vor dem Haus saßen einige alte Frauen neben dem Eingang auf einer Bank. »Mama Wina ist nicht daheim. Sie ist vor einer Stunde
in den Supermarkt gegangen.«
Ohne ein Wort zu sagen, stieg Natascha wieder ins Auto. |111| Der Supermarkt lag zwei Autominuten entfernt. Doch statt in den Laden hineinzugehen, lief Natascha in Richtung einer Grünfläche
auf der anderen Straßenseite. Wika folgte ihr. Erstaunt sah sie zu, wie sich Natascha auf den Boden kniete, krabbelnd in den
Büschen verschwand und mit einer betrunkenen Frau im Schlepptau wieder aus dem Unterholz auftauchte. Die Frau hatte Mühe,
sich aufzurappeln. Das also war Mama Wina. Während sie schwankend vor ihnen stand, tauchte hinter ihr auf allen vieren ein
obdachloser Alkoholiker auf.
Lachend erinnert sich Wika daran, wie entsetzt sie damals gewesen war. »Einen Moment lang sah ich mich durch die Augen meiner
Großmutter: Ein unschuldiges Mädchen, das die Gesellschaft von Herumtreibern sucht, die ihre Tage saufend im Park zubringen.«
Natascha gelang es, die beiden Betrunkenen auf den Rücksitz zu verfrachten, und zusammen fuhren sie zurück zu Mama Winas Wohnung.
Dort lag in einer Schublade Nataschas Ausweis. Als sie wieder draußen am Auto standen, streckte Natascha Wika den Ausweis
entgegen und sagte: »Hier – nehmen Sie
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