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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anett Leunig
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presste die Lippen fest zusammen. Endlich nickte sie. Sie hatte verstanden.
    Aber meine Mutter schien ohnehin nichts bemerkt zu haben. Sie war so aufgeregt und glücklich, ihre Schwester wiederzusehen, dass die beiden erst einmal für eine Stunde im nächsten Café verschwanden, um, wie sie sagten, „wieder mal richtig ungestört quatschen zu können“. Ich verzog mich derweil in den Buchladen nebenan, suchte mir ein paar Schmöker heraus und las. Ich hoffte nur, dass Tante Melanie mein Zeichen richtig verstanden hatte und ihre Zunge im Zaum hielt, zumindest, bis wir beide einmal unter vier Augen miteinander gesprochen hatten.
     
    Erst heute morgen hatte sich dazu endlich die Möglichkeit ergeben. Meine Mutter hatte mich noch einmal losgeschickt, um die letzten Einkäufe zu erledigen, und Tante Melanie begleitete mich. Kaum waren wir außer Hör- und Sichtweite des Hauses, da fragte sie mich erneut: „Wie geht es dir, so ohne Christoph?“
    „Er fehlt mir furchtbar.“ Die Antwort kam ganz spontan, aus meinem tiefsten Inneren heraus. Am liebsten hätte ich es jetzt noch ein paar Mal gesagt, um endlich den Schmerz loszuwerden, der seit Wochen in mir festsaß wie eine unverdaute Kartoffel. Ich war froh, endlich mit jemandem über meine Gefühle reden zu können. Bei Felix hatte ich dieses Thema bisher weitestgehend vermieden; es kam wohl nicht so gut an, mit seinem Sandkastenfreund über seinen Lover zu sprechen.
    Tante Melanie nickte mitfühlend: „Das kann ich gut verstehen. Er fehlt mir auch entsetzlich. Manchmal denke ich, die Zeit will einfach nicht vergehen. Dabei haben wir schon fast Ende Dezember! Noch gut fünf Wochen, dann ist er wieder da! – Hoffentlich.“ Das letzte Wort hatte sie ganz leise gesprochen, fast geflüstert. Ich wusste, welche Sorgen sie belasteten, und legte tröstend den Arm um ihre Schultern. So eilten wir eng nebeneinander durch den trüben, nasskalten Weihnachtsmorgen: zwei Menschen, die sehnsüchtig auf jemanden warteten, den sie beide sehr liebten.
    „Ihr schreibt euch regelmäßig E-Mails, nicht wahr?“, fragte sie mich.
    „Ja. Manchmal chatten wir auch, aber das ist immer ein bisschen schwierig wegen der Zeitverschiebung. Weißt du, ich möchte ihn so gerne wieder einmal hören, seine Stimme so richtig an meinem Ohr.“
    Sie lächelte mich aufmunternd an: „Das kommt schon wieder, Jann.“ Ich spürte den silbernen Anhänger kühl auf meiner Brust.
    Plötzlich hatte ich wieder eine von diesen seltsamen Eingebungen, von denen ich nicht wusste, woher sie kamen - nur, dass ich ihnen unbedingt folgen musste: „Tante Melanie, kann ich dich mal etwas Persönliches fragen?“, und als sie nickte: „Wie heißt Christophs Vater mit Nachnamen?“
    Sie war erstaunt, regelrecht verwirrt über diese unerwartete Frage. Dann antwortete sie nachdenklich: „Er heißt Santer. Christian Santer. Warum fragst du?“
    Darauf hatte ich keine Antwort, aber ich musste noch etwas wissen: „War er in diesem Jahr wieder bei euch?“
    Sie zögerte einen Augenblick, holte Luft, um zu antworten, schien es sich dann aber wieder anders zu überlegen und schüttelte schließlich traurig den Kopf:
    „Wir haben ihn seit Christophs achtzehntem Geburtstag nicht mehr gesehen. Die Schaustellertruppe kam wie gewohnt zur selben Zeit, aber er war einfach nicht mehr dabei. Christoph war völlig von der Rolle. Erst dachten wir, es wäre etwas passiert, aber die anderen aus der Truppe versicherten uns, dass er bis vor ein paar Tagen noch gesund und munter bei ihnen gewesen wäre und sich regelrecht über Nacht verabschiedet hätte. Ob er wiederkommen würde, wussten sie nicht. Im nächsten Jahr meinten sie dann, er wäre nicht wieder bei ihnen gewesen. Ob das stimmte ...? Ich weiß nicht.
    Jedenfalls hatten wir ihn von da an verloren, und das machte Christoph schwer zu schaffen. Er wollte nach der Schule weg, ihn suchen, einfach auf und davon. Nur mit größter Überredungskunst habe ich ihn dazu gebracht, erst einmal für sich selbst zu sorgen, indem er eine Berufsausbildung oder ein Studium macht. Was, war mir gleich. Hauptsache, er blieb erst einmal bei mir.
    Er hat sich dann für das Architekturstudium entschieden, weil es ihm einerseits natürlich großen Spaß machte und sehr interessierte, aber auch, weil er damit überall auf der Welt etwas anfangen kann. Es war sozusagen der Passierschein für seine spätere Suche. Deshalb habe ich Angst, dass er nicht zurückkommt, verstehst du? Dass er von Kanada aus

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