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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anett Leunig
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dieser Zeit lag. Von da schien auch ihre Stimme zu kommen: „Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden. Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass gerade sie auch manche Narben einfach wieder aufreißt. Wie mit einem riesigen Rührlöffel in einem herumrührt, bis das, wovon man glaubte, es würde ganz nach unten abgesunken sein, plötzlich wieder oben schwimmt. Wenn man Glück hat, ist es mittlerweile gar gekocht, besser verdaulich. Wenn man Pech hat, ist es angebrannt.“ Sie war eine leidenschaftliche Köchin, und das Bild, das sie gerade entwickelt hatte, passte gut zu ihr.
    Ich wagte einen Vorstoß: „Wie, denkst du denn, ist dieser Brocken in deiner Suppe? Weich oder verkohlt?“
    Sie überlegte eine ganze Weile, schaute konzentriert auf die Poster über meinem Bett. Vielleicht fiel ihr jetzt zum ersten Mal auf, dass es in meinem Zimmer kein einziges Bild von einer Frau gab. Nur Männer, einige davon halbnackt. Die Poster hingen schon seit zwei Jahren da. Hätte es ihr auffallen müssen?
    Schließlich fanden ihre Augen wieder zu mir zurück. Sie lächelte schwach: „Leicht gedünstet, aber noch nicht gar. Ich denke, das braucht noch eine Weile.“ Ich nickte. Jedenfalls war das keine endgültige Absage.
    Dann fragte sie unvermittelt: „Was soll ich denn deinem Vater sagen, wenn er morgen Abend anruft? Und er wird anrufen, um nach  deinem Zeugnis zu fragen!“ Mir fiel auf, dass sie ‚dein Vater’ sagte und nicht ‚Papa’ wie sonst. Hmm, an den hatte ich noch gar nicht gedacht. Aber musste sie ihm überhaupt etwas sagen?
    „Am besten nur, dass ich Christoph abholen will. Ich meine, man kommt doch nicht jeden Tag aus Übersee nach Hause, oder? Und die Sache mit Celine natürlich, das kommt früher oder später sowieso raus.“
    „Die andere Sache auch, Jann. Du kannst es nicht vor ihm verheimlichen.“ Da hatte sie Recht. Aber ich fühlte mich noch nicht sicher genug, meinem Vater mit meiner Beziehung zu Christoph gegenüberzutreten. Das musste einfach noch warten. Erst musste ich  reinen Tisch mit Christoph machen, sehen, ob uns nach diesen letzten sechs Monaten noch das zusammenhielt, woran ich keinen Augenblick lang gezweifelt hatte. Mutter war einverstanden, stand schließlich auf und wuselte mir mit der Hand durchs Haar. Eine Geste, die ich auch von Tante Melanie bei ihrem Sohn kannte. Ich sah ihr nach, wie sie langsam hinausging: aufrecht, stolz, aber in ihr tobte noch immer ein unsichtbares Gewitter. Wie ähnlich sich die Schwestern waren, und wie unterschiedlich sich doch ihr Leben gestaltet hatte. Und trotzdem fügten sich die beiden Bänder am Ende wieder zusammen: durch ihre Kinder, die sich vereinten. Verrückt!

 
    IX
    Nicht einmal vierundzwanzig Stunden später saß ich im ICE nach München – wieder einmal! Es war seltsam, dieselbe Strecke sechs Monate später erneut zurückzulegen; wobei ich jetzt allerdings ganz andere Gedanken im Kopf hatte. Aber eigentlich war die Situation ähnlich: ich hatte Frust, weil kurz zuvor etwas Entscheidendes schief gegangen war, und ich wusste nicht, was mich am Ziel meiner Reise erwartete. Aber wusste man das eigentlich je?
    Eine Sache allerdings war anders als bei meiner Fahrt im letzten Sommer: neben mir saß kein fremder, schnarchender Mann, sondern Celine, die mich von meinen Sorgen abzulenken versuchte, indem sie mir von Frankreich erzählte, von der Bretagne und ihrem Heimatort. Sie sprach deutsch und ich antwortete auf Französisch, einfach aus Lust und Laune, und natürlich der Übung halber. Mein Wortschatz hatte sich in den letzten Wochen fast verdreifacht, meine Grammatik näherte sich dem Verständlichen, und die Aussprache verlangte meiner Zunge längst nicht mehr solch akrobatische Meisterleistungen ab wie noch zwei Monate zuvor. Celine war stolz auf mich. Ich auch.
     Als der Zug in München einfuhr, begann mein Herz, schneller zu schlagen. Ihres wahrscheinlich auch, und sie hielt sich beim Aussteigen dicht hinter mir. Wieder stand ich auf dem Bahnsteig, der mich dieses Mal nicht mit drückender Hitze, sondern mit feuchter Kälte empfing, die durch die dichten Maschen meiner Jacke bis auf meine Haut kroch. Ich schlug den Kragen hoch, Celine versteckte ihre Nase hinter ihrem Schal, während wir uns suchend umsahen. Die Reisenden um uns herum waren alle dick eingemummelt in dunkle Mäntel oder unförmige Daunenjacken. Keine leichten, luftigen Sommersachen, keine Sonnenhüte, keine bunten Farben. Ich fand den Winter schon allein aus diesem Grund

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